BuchKolumne 25.01.2021 Nr. 649
Annette Mingels – Dieses entsetzliche Glück
Ali Smith – Winter
Robert M. Zoske – Sophie Scholl: Es reut mich nichts
Simon Garfield – Das Universum in der Westentasche
Anne Mette Hancock – Leichenblume
Annette Mingels – Dieses entsetzliche Glück
Hollyhock, eine Kleinstadt in Virginia: von hier kommen sie, von hier fliehen sie, hierhin kehren sie zurück, manche für immer. Fünfzehn Menschen, fünfzehn Leben, die miteinander verbunden sind. Da sind Robert und Amy, die vor einem Jahr eine Vereinbarung getroffen haben: sie dürfen beide mit anderen schlafen, was Robert gar nicht will. Da ist Aiko, die glücklich sein könnte mit Alex, der eine Zuversicht ausstrahlt, die sie von ihrem Bruder Kenji kennt, doch das Glück will sich nicht einstellen. Da ist Dan, dessen Ehe in die Brüche ging und der ahnt, dass auch die seiner Schwester Amy auf der Kippe steht. Da ist Kenji, der sich als Schriftsteller versucht, und Lucy, die sich zu ihrer eigenen Überraschung in eine Frau verliebt. Und da ist Basil, der ein Geheimnis mit sich trägt, von dem in Hollyhock niemand etwas ahnt.
Annette Mingels erreichte mit ihrem Roman „Was alles war“ einiges Aufsehen. Nun ist ihr neuer Roman „Dieses entsetzliche Glück“ erschienen. Ein Buch, das die Reise in das Seelenleben einzelner ganz unterschiedlicher Charaktere aus einer amerikanischen Kleinstadt abbildet. Beziehung, Ehe, Liebe, Familie, Freundschaften, Alltag, Beruf, das Altern, Krankheit. Annette Mingels nimmt sich all dieser Themen mit feiner Feder an. Nicht ausschweifend, sondern gut pointiert lässt sie den Leser eintauchen in das normale Leben, das so viel zu bieten hat, so dass das Buch auf keiner Seite langweilig ist. Es sprüht vor Emotionen. Da Annette Mingels zahlreichen Figuren einzelne Kapitel schenkt, ohne dass diese wirklich auf dramatische Weise zusammenhängen, mutet das Buch immer wieder wie ein Band mit Kurzgeschichten an. Doch durch die Verknüpfung mit Hollyhock und das einzelne Figuren in Geschichten der anderen auftauchen – mal kürzer und mal länger – ist ein loses Band vorhanden. „Dieses entsetzliche Glück“ ereilt nicht jeden in diesem Roman.
Penguin, 350 Seiten; 20,00 Euro
Ali Smith – Winter
Winter – die kürzesten Tage, die längsten Nächte. Eine Jahreszeit, die uns das Überleben lehrt. Vier Leute, Fremde und Familie, verbringen Weihnachten in einem riesigen Haus in Cornwall, und doch stellt sich die Frage, ob jeder genug Platz findet. Denn Arthurs Mutter Sophia sieht Dinge, die nicht sein können. Arthur selbst sieht andere. Und da sind noch Iris, Sophias Schwester, ewige Rebellin, nach dreißig Jahren wieder zurück, und Lux, eine Fremde, die Arthur als seine Freundin ausgibt. Eine besondere Nacht, voll Streit und Lügen, Erinnerungen und Mythen.
Die Britin Ali Smith gehört sicher zu den besten Romanautorinnen der Insel! Sie weiß spannende Geschichten über das Leben in ein attraktives sprachliches Kleid zu fassen. So weiß sie ihre Stärken auch in ihrem aktuellen Werk „Winter“ auszuspielen. Nach „Herbst“ folgt mit „Winter“ nun der nächste Band aus ihrem Jahreszeitenquartett. Doch geht die spannend klingende Familiengeschichte in Ali Smith sprachlichem Gewitter etwas unter. Zu wenig konnte mich das Geflecht der Figuren mit ihren Zusammenhängen und Abneigungen fesseln, abgelenkt vom oft übertriebenen und wirren Ausdruck.
Luchterhand, 315 Seiten; 22,00 Euro
Robert M. Zoske – Sophie Scholl: Es reut mich nichts
Die Bilder von Sophie Scholl kennt jeder: Die dramatischen Filmszenen im Lichthof der Münchner Universität haben sich ins kulturelle Gedächtnis eingefräst. Man erinnert die todesmutige Verteidigerin der Menschlichkeit vor dem Volksgerichtshof. Doch hinter der Ikone droht der Mensch zu verschwinden: jene junge Frau, die Liebe und Freundschaft auf äußerst verwirrende und widersprüchliche Weise erlebte. Die sich viele Jahre begeistert im Bund Deutscher Mädel engagierte. Die hohe Ideale hatte und nur langsam erkannte, dass der Nationalsozialismus sie aufs Brutalste verriet. 1942 schreibt Sophie: „Habe ich geträumt bisher? Manchmal vielleicht. Aber ich glaube, ich bin aufgewacht“.
Robert M. Zoske wirft einen besonderen Blick auf die historisch so große Sophie Scholl. Mir hat der Ansatz von Robert M. Zoske sehr gut gefallen. Er bringt einen in einzelnen forschen Betrachtungen (Tochter, Hitlermädchen, Konfirmandin, Schülerin, Geliebte, Kindergärtnerin, Arbeitsmaid, Briefpartnerin, Studentin, Rebellin, Märtyrerin) das Leben der Sophie Scholl auf nachdrückliche Art näher. Dabei zeigt er neben den Heldentaten der Sophie Scholl auch das differenzierte Bild eines Mädchens, einer jungen Frau, die in ihrem Leben nicht immer so wahr, wie die Welt sie später kennen gelernt und wahrgenommen hat. Die vor ihrem politischen Aufbegehren Feuer und Flamme war für den Nationalsozialismus, erst nach und nach erkennt sie, wo Hitler Deutschland hinsteuerte (Darin spiegelt sich ihr höchst ambivalentes Verhältnis zum Nationalsozialismus, das sich von glühendem Fanatismus über langsame Ernüchterung zu erbittert-verzweifelter Gegnerschaft 1942 wandelte). Aber das sie vor allem ein jugendliches Leben vor ihren Heldentaten hatte, zeigt dieses Buch in prägnanter Form. Sie zeichnete aus, dass sie „ein Gespür für Gerechtigkeit, für Richtung und Falsch hatte. Verstieß sie gegen ihre ethische Überzeugung, fühlte sie sich schuldig und handelte. Gerechtigkeitssinn und Schuldgefühl gehörten für sie zusammen. Sie musste Verantwortung übernehmen und handeln.“ Ein spannendes Werk, das einen Sophie Scholl besser kennenlernen und verstehen lässt!
Propyläen, 448 Seiten; 24,00 Euro
Auch aktuell erhältlich zum Thema: „Wie schwer ein Menschenleben wiegt – Sophie Scholl – Eine Biographie“ von Maren Gottschalk, C. H. Beck, 24,00 Euro.
Ob Rod Stewarts Modelleisenbahn, Hamburgs erster Flohzirkus, das Puppenhaus der Queen, die Freiheitsstatue im Stecknadelkopf – seit jeher üben Miniaturen eine magische Faszination auf die Menschen aus. Nicht, weil sie klein sind, sondern weil sie die Welt im Kleinen abbilden und somit erfassbar machen. Der Blick auf das Kleine verleiht uns Macht – man denke nur an die ersten Besucher, die 1889 auf dem Eiffelturm standen und die Metropole unter sich auf einmal aus der Vogelperspektive erlebten; oder an Kinder, die wie riesenhafte Eroberer durch die schrulligen Modellstädte torkeln, die so manche Minigolfanlage breithält.
Simon Garfield nimmt uns mit auf eine Reise durch die Universen der kleinsten Dinge der Welt: von der Entwicklung des Souvenirs in Frankreich zu den eigensinnigen Büchersammlern, die ihre Lesebrillen durch Mikroskope getauscht haben; von den Schiffsmodellen der Kolonialzeit, die maßgeblich zur Abschaffung des Sklavenhandels beitrugen, bis in die flirrende Lichterstadt Las Vegas. Faszinierend, beeindruckend klein und doch so groß im Erleben, ein Buch wie ein kleiner Rausch! Die Hauptthemen sind: „Der Blick von oben“, „Miniaturdörfer und Modellstädte – mal mehr, mal weniger idyllisch“, „Porträt einer Ehe“, „Die aufregende Jahresversammlung der Miniaturgesellschaft“, „Häusliche Perfektion“, „Die größte Modelleisenbahn der Welt“, „Die Zukunft war einmal ein schöner Ort“, „Das perfekte Hobby“, „Das Theater der Träume“ und „Miniaturmenschen“.
HarperCollins, 287 Seiten; 20,00 Euro
Anne Mette Hancock – Leichenblume
Die Kopenhagener Investigativ-Journalistin Heloise Kaldan steckt in einer heiklen Jobkrise, als sie einen mysteriösen Brief erhält: von einer gesuchten Mörderin. Darin stehen Dinge über Heloise, die eigentlich niemand wissen kann. Beunruhigt beginnt Heloise, auf eigene Faust zu recherchieren. Die Absenderin ist seit einem brutalen Mord vor einigen Jahren spurlos verschwunden. Was will sie nun ausgerechnet von Heloise, und woher hat sie die Informationen über sie? Zur gleichen Zeit erhält auch Kommissar Erik Schäfer einen neuen Hinweis auf die Gesuchte. Alle Spuren scheinen zu Heloise Kaldan zu führen. Ist ihr Leben in Gefahr? Und können der Polizist und die Journalistin einander vertrauen?
„Leichenblume“ ist der erste Fall der Erfolgs-Reihe um Heloise Kaldan und Erik Schäfer. Die Thriller der sehr attraktiven Dänin Anne Mette Hancock sind in ihrer Heimat Nr.-1-Bestseller. „Leichenlume“ zeigt gleich von Anfang an, warum das so ist. Hohe Spannungsdichte, starkes Personal, wendungsreich, da freut sich das Thriller-Herz! „Leichenblume“ ist ausgezeichnet mit dem dänischen Krimi-Preis.
Scherz 362 Seiten; 15,00 Euro