BuchKolumne 12.06.2023 Nr. 773
Lucinda Riley / Harry Whittaker – Atlas – Die Geschichte von Pa Salt
Robert Coover / Art Spiegelman – Street Cop
Salma El-Wardany – Alles, was wir uns nicht sagen
Bernhard Jussen – Das Geschenk des Orest
Klaus-Peter Wolf – Ein mörderisches Paar – Das Versprechen
Lucinda Riley / Harry Whittaker – Atlas – Die Geschichte von Pa Salt
Paris, 1928. Ein Junge wird gerade noch rechtzeitig entdeckt, bevor er stirbt, und von einer Familie aufgenommen. Er ist klug und liebenswert, und er entfaltet seine Talente in dem neuen Zuhause. Hier wird ihm ein Leben ermöglicht, von dem er nicht zu träumen gewagt hätte. Doch er weigert sich, einen Hinweis darauf zu geben, wer er wirklich ist. Als er zu einem jungen Mann heranwächst, verliebt er sich und besucht das berühmte Pariser Konservatorium. Aber Unheil ballt sich zusammen über Europa, und niemand ist mehr in Sicherheit. Ägäis, 2008. Alle sieben Schwestern sind an Bord der „Titan“ zusammengekommen, um sich von ihrem geliebten Vater, der ihnen stets ein Rätsel blieb, zu verabschieden. Zur Überraschung aller ist es die verschwundene Schwester, die von Pa Salt damit betraut wurde, ihnen die Spur in ihre Vergangenheit aufzuzeigen. Aber für jede Wahrheit, die enthüllt wird, taucht eine neue Frage auf, und die Schwestern müssen erkennen, dass sie ihren Vater kaum gekannt haben. Diese lang begrabenen Geheimnisse haben noch immer Auswirkungen auf ihrer aller Leben.
Es vergeht kaum eine Woche, seit dem Tod von Lucinda Riley im Juni 2021, in der ich nicht an diese so großartige Autorin denke! Nun wird sie mir noch mehr zurück ins Gedächtnis gerufen, denn sie und vor allem ihr Sohn Harry Whittaker haben eine der besten literarischen Buchreihen zu einem Ende geführt: „Die-Sieben-Schwestern“-Reihe findet in „Atlas – Die Geschichte von Pa Salt“ ihren Abschluss. Aber ist es dem Sohn gelungen, das große Erbe der Mutter zu einem würdigen Abschluss zu bringen? Ja! Das Buch gibt Antworten auf noch offene Fragen über die sieben Schwestern und darüber hinaus. „Atlas – Die Geschichte von Pa Salt“ ist ein großes Leseerlebnis! Die LeserInnen werden über 800 Seiten bestens unterhalten und können noch einmal die ganze Buch-Reihe an sich vorbeiziehen lassen.
Goldmann, 799 Seiten; 24,00 Euro
Robert Coover / Art Spiegelman – Street Cop
In einer Welt der Roboter und fliegenden Autos zieht ein altmodischer Streifenpolizist durch New York. Er sehnt sich nach den Tagen, als die Zeit noch linear verstrich und Häuser nicht plötzlich ihren Ort wechselten. Mit Hilfe einer künstlichen Intelligenz, in die er sich ein bisschen verliebt hat und begleitet von einer seltsamen Untoten, macht sich der Street Cop auf die Suche nach einer angeblichen Leiche.
Das schreibt der Verlag über das Buch: „2020 hatte Robert Coover gerade eine Geschichte um den letzten New Yorker Streifenpolizisten geschrieben – und bat Art Spiegelman, sie zu illustrieren. So entstand inmitten der Pandemie ein Buch über die Zukunft – und eine Liebeserklärung an den Comic von einem seiner größten Künstler.“ Die Geschichte hörte sich wunderbar schräg und schön an, dass ich sehr gespannt war auf dieses große Buch. Doch zuerst dachte ich, es handelt sich um einen Irrtum, als ich das Buch in Händen hielt. Es handelt sich um ein Mini-Taschenbuch für satte 22 Euro. Man bekommt auf 115 Seiten durchaus einiges geboten, aber es wäre so viel mehr drin gewesen. Die Geschichte hätte das Potenzial für einen 600-Seiten-Roman plus Zeichnungen gehabt, aber so wirkt die Story nur angerissen, aber keinesfalls fertig auserzählt. Die Zeichnungen von Comic-Altmeister Art Spiegelman sind gelungen, aber verteilen sich auch nur spärlich in diesem Mini-Buch.
S. Fischer, 132 Seiten; 22,00 Euro
Salma El-Wardany – Alles, was wir uns nicht sagen
Jenna, Kees und Malak – seit ihrer Kindheit sind sie befreundet. Zu dritt gegen die Welt, das haben sie sich geschworen. Täglich bewältigen sie den Spagat zwischen ihren eigenen Vorstellungen vom Leben und denen ihrer Familien, dabei sind sich die Freundinnen immer eine Stütze. Doch eine Nacht verändert plötzlich alles zwischen ihnen, und im Streit trennen sich ihre Wege. Malak reist Hals über Kopf nach Kairo, um endlich einen Mann zu finden, der ihre Wurzeln versteht. Kees zieht mit ihrem Freund Harry zusammen, doch ihre Eltern dürfen davon nichts erfahren, denn Harry ist weiß. Und Jenna stürzt sich ins Dating, aber das kann ihre Einsamkeit nicht überdecken. Die drei Freundinnen brauchen sich mehr denn je, doch werden sie sich verzeihen können?
Salma El-Wardany, Halb-Ägypterin und Halb-Irin, hat einen mitreißenden Roman über starke Frauen geschrieben! Malak, Kees und Jenna sind geprägt von ihrem muslimischen Elternhaus, möchten aber in ihrem Leben vieles anders machen als ihre streng konservativen Eltern. Da sind Reibungspunkte an der Tagesordnung. Wenn eine der drei Frauen mit dem liebsten Mann auf der Welt eine Beziehung hätte, geht das gar nicht, wenn er kein Muslim ist. Dazu im Buch: „Bring irgendwem mit nach Hause, Hauptsache er ist Muslim. Er könnte ein Drogendealer mit fünf Kindern aus fünf verschiedenen Ehen sein – solange er weiß, welche Worte er sprechen muss, wenn der Gebetsruf ertönt, dürfen wir ihn mit nach Hause bringen. Schleppt eure Sünder an, eure Bad Boys, bringt die Männer, die ihr ganzes Leben noch nichts erreicht haben, solange sie Muslim sind, ihr könnt unsere Töchter haben. Es ist erbärmlich.“ Das sagt alles! Doch Malak, Kees und Jenna wollen sich mit diesem Steinzeitdenken nicht abfinden. Sie wollen ausbrechen. Oder dann doch nicht? Sind ihnen die Konventionen wichtiger, wie ihr wahres Ich? Echte Liebe, ist das wichtig, wenn man dann dem anderen nicht mehr gefällt? Wie sehr kann man sein eigens Ich abstreifen, bis es so weit ist, dass man sich selbst nicht mehr wiedererkennt? Und dass nur, um den Konventionen gerecht zu werden. Ein fesselnder, dramatischer und herzzerreißender Roman!
Penguin, 475 Seiten; 18,00 Euro
Seit dem 18. Jahrhundert lud die Idee einer „antiken“ römischen Hochkultur und ihrer intellektuellen „Wiedergeburt“ 1000 Jahre nach ihrem „Untergang“ die historische Fantasie zur Identifikation ein und stempelte die Zeit dazwischen zu einem „Mittelalter“ ab – ein seltsames Konzept, das trotzdem bis heute wirkmächtig ist. Wie wenig diese Art, Vergangenheit zu deuten, heute noch erklären kann und wie sehr sie aktuellen Erklärungsbedarf geradezu blockiert, macht Bernhard Jussen in seinem Buch deutlich. Er macht sich an eine Revision der Geschichte des lateinischen Europas.
Der Verlag schreibt: „Dieses Buch ist eine Provokation. Konsequent wird der Abschied vom Epochendenken vollzogen – im konkreten Fall das „Mittelalter“ zu Grabe getragen. An die Stelle dieser längst anachronistischen Prägung für 1000 Jahre Geschichte, die man als Epochenportion etikettieren und beruhigt in den Bücherschrank stellen kann, tritt ein neues Nachdenken über eine dynamische Phase des lateinischen Europas.“ Dem kann ich mich in diesem Umfang nicht anschließen. Trotzdem ist das Buch eine echte Bereicherung, wenn es um die Betrachtung des nachrömischen Europas geht. Ich habe es mit großem Interesse gelesen. „Das Geschenk des Orest – Eine Geschichte des nachrömischen Europa 526 – 1535“ wird auch Sie überraschen und dass ein oder andere Denkmuster der Historie neu überdenken lassen. Die Hauptthemen sind: „Das Grab der Turteltaube“, „Das Geschenk des Orest“, „Das echte Bild des Herren“, „Die Zeichnung des allersüßesten Gozbert“, „Der Hobel der Eintracht“, „Das Dilemma der Hinterbliebenen“ und „Der Adam des jüngeren Holbein“. Zu der spannenden Geschichten gibt es noch reichlich Abbildungen, die das Buch zu einem echten Hochgenuss machen!
C. H. Beck, 480 Seiten; 44,00 Euro
Klaus-Peter Wolf – Ein mörderisches Paar – Das Versprechen
Ein dreizehnjähriger Schüler ist tot. Gestorben an einer Überdosis Heroin. Der, der dafür verantwortlich ist, wurde gerade freigesprochen. Aus Mangel an Beweisen. Und weil sich viele Zeugen nicht mehr erinnern konnten. Weil die Polizei Fehler beging. Also konnte der, den sie auch den Holländer nennen, das Gerichtsgebäude als freier Mann verlassen. Das lasse ich ihm nicht durchgehen, denkt sich Dr. Bernhard Sommerfeldt. Ich werde ihm einen Besuch abstatten müssen. Und seine zukünftige Ehefrau ahnt, dass es mit dem beschaulichen Leben in Ostfriesland so schnell nichts werden wird.
Hervorragende Ostfriesland-Krimis = Klaus-Peter Wolf! Neben seiner mega-erfolgreichen Reihe um Kommissarin Ann Kathrin Klassen, die mittlerweile 17 Bände umfasst, und der Ausgliederung mit „Rupert Undercover“ hat er noch eine dritte Reihe an den Start gebracht. Hier ist Dr. Bernhard Sommerfeldt der Star. Der ja so gar nicht nett ist, aber irgendwie doch. Nach zwei Trilogien der beiden letztgenannten folgt nun „Ein mörderisches Paar“ bei denen Charaktere aus den beiden Trilogien zusammengeführt werden. Der Klaus-Peter-Wolf-Ostfriesland-Krimi-Kosmos ist gigantisch! Der Autor unterhält seine LeserInnen auch mit „Das Versprechen“ auf das Vorzüglichste.
Fischer, 451 Seiten; 13,00 Euro