Kolumne vom 09.11.2015 – Nr. 377
Jenny Erpenbeck
Gehen, ging, gegangen
Wie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Wie geht man um mit dem Verlust derer, die man geliebt hat? Wer trägt das Erbe weiter? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen dort zu suchen, wo sonst niemand sie sucht: bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind. Richard lernt die Flüchtlinge kennen und bekommt einen anderen Blick auf die Menschen, auf die Welt.
Geht es aktueller? Wohl kaum. Ein literarisch kunstvoll verfasster Roman über das Leben, das vergeht, und über die Flüchtlinge in unserem Land, und wie man mit ihnen menschlich umgeht. Wenn man mit den Flüchtlingen spricht werden sie zu Menschen mit einer Geschichte, und es sind dann nicht mehr nur noch die Flüchtlinge. Jenny Erpenbeck erzählt sozusagen aus erster Hand, denn sie hat für diesen Roman mit vielen Geflüchteten gesprochen. Dieses Buch ist so auch ein grausamer Fundus an Geschichten, warum Menschen ihre Heimat verlassen und ihr Leben riskieren, um ein besseres, ein normales Leben führen zu können. Ein Roman der hinter die Menschen blickt. Auch die Geschichte des Witwers Richard zeigt eine Flucht auf – nach vorne. Das Leben, das einem noch bleibt, noch zu leben, auch wenn man dies alleine tun muss. Oder auch nicht, denn die Flüchtlinge werden zu Richards Freunden. „Gehen, ging, gegangen“ ist Jenny Erpenbecks Meisterstück! Das Buch war auch für den deutschen Buchpreis nominiert.
Auch als Hörbuch erhältlich bei Hörbuch Hamburg. Friedhelm Ptok (geboren 1933), u. a. Synchronsprecher bei einigen „Star-Wars“-Filmen, gibt Richard eine deutliche, eine passende Stimme. Eine gute Sprecherwahl für Erpenbecks Meisterstück. 19,99 Euro.
Knaus, 348 Seiten; 19,99 Euro
Leanne Shapton, Sheila Heti, Heidi Julavtis und andere
Frauen und Kleider
Unser Leben, unsere Kleider: Warum der alte übergroße Mantel, warum der rote Angora-Pullover, warum die silbernen Doc Martens? Welchen Einfluss haben Freundinnen, Männer, verflossene Lieben und der Kleiderschrank der Mutter? Welche Rituale gibt es beim Anziehen, mit welchen Kleidern hüllt man sich in eine neue Identität? Die drei Autorinnen dieses Buches interessieren sich dafür, warum Frauen anziehen, was sie anziehen und was sie uns damit erzählen.
„Frauen und Kleider“ ist ein New-York-Times-Bestseller! Das muss man mit Nachdruck erwähnen, denn man fragt sich, wie das Buch das geschafft hat. Die Idee des Buches ist sehr gut. Lass Frauen aus dem Nähkästchen plaudern und erzählen, was sie anziehen. Wieso? Weshalb? Warum? Klasse! Nein, das Buch ist eine Katastrophe. Und man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Zuerst fehlen die Fotos zu der Mode, die angesprochen wird. Mode, Fotos, hallo, das gehört doch zusammen. Die paar Bildchen die abgebildet sind, kommen einem vor wie aus dem Überraschungsei. Dann ist viel Text extrem klein gedruckt, sehr unangenehm zu lesen. Und über allem schwebt die Langeweile. Denn das, was so erzählt wird, über das was die Frauen anziehen, ist wenig anziehend!
S. Fischer, 446 Seiten; 24,99 Euro
Zeruya Shalev
Schmerz
Vor zehn Jahren ist Iris bei einem Terroranschlag schwer verletzt worden. Zwar ist sie in ihr altes Leben zurückgekehrt, sie leitet eine Schule, ihr Mann steht ihr treu zur Seite, die Kinder sind fast erwachsen, doch quälen sie Tag für Tag Schmerzen. Als sie Eitan wiederbegegnet, der Liebe ihrer Jugend, der sie vor Jahren jäh verlassen hat, wirft sie das völlig aus der Bahn. Die Wunde, die er ihr damals zufügte, ist tief, und doch fühlt sich Iris erneut zu ihm hingezogen Sie ist versucht, ihrer Ehe zu entfliehen, die ersten Lügen zu stricken, alles aufs Spiel zu setzen.
Hätte man einen besseren Romantitel als „Schmerz“ für dieses Buch finden können? Nein! Die israelische Bestsellerautorin Zeruya Shalev beschreibt das Leben von Iris so plastisch schmerzvoll, das man beim Lesen selbst leidet. Zeruya Shalev schreibt betörend und in einer Sprache, die voller Geheimnisse ist. Die Geschichte fließt dahin wie ein ruhiger Bach, der immer mehr zu einem reißenden Fluss wird. „Schmerz“ zeigt ein körperliches und seelisches Trauma, das ein ganzes Leben verändert, eine Ehe, die immer brüchiger wird, aufgezehrt vom Alltag, aber vor allem durch Iris‘ schockierenden Lebenseinschnitt, Kinder, die nicht mehr Kinder sind, sondern Erwachsene sein wollen, nicht mehr hören, nicht mehr so wollen, wie es eigentlich sein sollten. Und dann kommen da neue Gefühle: Sex, ja, aber vor allem das Spüren des anderen. „Schmerz“ ist schmerzvoll – durch und durch.
Auch als Hörbuch erhältlich bei Osterwold Audio. Die bekannte deutsche Schauspielerin Maria Schrader gibt sich wieder die Ehre als Vorleserin. Eine beeindruckende Lesung, so beeindruckend wie der Roman. 24,99 Euro.
Berlin Verlag, 381 Seiten; 24,00 Euro
Alessandra Mattanza
Zu Hause in New York: 20 Prominente zeigen ihre Stadt
Robert de Niro, Woody Allen, Siri Hustvedt, Daniel Libeskind, Taylor Swift, Candace Bushell, Spike Lee, Al Pacino, Martin Scorsese und noch andere mehr. Diese berühmten New Yorker zeigen dem Leser ihre Stadt. Die Autorin Alessandra Mattanza hat bedeutende Köpfe aus Kunst, Kultur und Show Business getroffen und ihnen ihre ganz persönlichen Geschichten zum Big Apple entlockt.
New York intim! Genau das ist dieses Buch. Nicht eine Person gibt ihre Eindrücke der Megacity wieder, sondern viele unterschiedliche Stimmen mit ganz unterschiedlichen Ansichten und Herangehensweisen an die Stadt kommen zu Wort. Ein Buch zum dahinschwelgen! New-York-Liebhaber dürfen sich das nicht entgehen lassen. Sehnsüchte werden geweckt, nicht nur durch die Texte, sondern auch durch die zahlreichen schönen Fotos dieser so einzigartigen Stadt.
National Geographic, 256 Seiten; 39,99 Euro
Nina Garcia
Der perfekte Look
Egal ob es um den ersten Tag am neuen Arbeitsplatz, das Treffen mit den Schwiegereltern in spe oder die eigene Hochzeit geht – immer stellt sich die Frage „Was zieh ich nur an?“. Fashion-Ikone Nina Garcia weiß Rat: Sie erläutert die richtige Strategie, schlägt Kleidungsstücke und Accessoires vor und hilft so, für jede Lebenslage den perfekten Look zu kreieren.
Ein Buch, bei dem einer Frau das Herz aufgeht – wenn es um, eben, den perfekten Look geht. Das Buch ist wunderschön schick gestaltet! Und das Buch deckt sieben Themenbereiche ab: Liebe, Der Tag, Der Abend, Festtage, Besondere Anlässe, Hochzeiten, Traumreise. Und zu jedem Hauptpunkt gibt es viele Unterpunkte. Vom ersten Date, über das Rockkonzert, die Oper, der Shoppingtrip, Weihnachten, Ostern, der Elternsprechtag und so weiter. Ein Buch zum lieb haben. Wo bleibt die Ausgabe für den Mann?
Mosaik, 317 Seiten; 19,99 Euro
Hörbuch der Woche
Mel Wallis de Vries
Da waren’s nur noch zwei
Kim, Feline, Abby und Pippa: Die vier jungen Freundinnen wollen gemeinsam ein paar Tage Urlaub in einem einsam gelegenen Ferienhaus machen. Doch dann hört es nicht mehr auf zu schneien und die vier sitzen fest. In dem Haus werden die Spannungen zwischen den Mädchen immer deutlicher, denn die vier sind in Wirklichkeit sehr unterschiedlich. Dann lernen sie ein paar Jungs kennen, mit denen sie dann im Haus feiern. Am nächsten Morgen ist Kim verschwunden. Sie soll mit einem der Jungs nach Amsterdam zurückgefahren sein. Doch stimmt das wirklich?
„Da waren’s nur noch zwei“ hat mich von Anfang bis Ende gefesselt! Die Niederländerin Mel Wallis de Vries beschreibt die vier unterschiedlichen Mädchen sehr gut und aussagekräftig. Man kann verstehen, warum die eine das und die andere das tut. Sehr realitätsnah. Pippa drängt sich da besonders in den Vordergrund. Ein Mädchen, das man auf den Mond schießen könnte, so nervig ist sie. Jedes der vier Mädchen hat etwas zu verbergen, etwas, das sie nicht mit ihren Freundinnen teilt. Nach und nach decken sich diese Dinge auf und sorgen für noch mehr Spannungen unter den Mädchen. Ein fesselnder Spannungsroman der zeigt, wie wertlos angebliche Freundschaften sind, wenn es hart auf hart kommt. Der Roman ist eben nicht nur spannend, sondern auch ein Spiegel unserer Zeit. Das trifft auf Jugendliche wie Erwachsene zu. Die vier Sprecherinnen Merte Brettschneider (Kim), Maximiliane Häcke (Feline), Nana Spier (Abby) und Annina Braunmiller-Jest (Pippa) liefern eine Lesung mit Suchtfaktor ab. Jede von ihnen gibt den Mädchen eine eigene, deutliche Stimme.
Auch als Hardcover erhältlich bei One, 10,00 Euro.
Lübbe Audio, 4 CDs, 304 Minuten; 16,99 Euro
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