November 21, 2024

Kolumne 08.03.2021 Nr. 655

655

BuchKolumne 08.03.2021 Nr. 655

Megan Hunter – Die Harpyie
Eva Ladipo – Räuber
Anne Prettin – Die vier Gezeiten
Barbara Demick  – Buddhas vergessene Kinder
George Orwell – Farm der Tiere

   Megan Hunter – Die Harpyie

Das Ehepaar Stevenson lebt mit seinen beiden Söhnen am Rande einer wohlhabenden Kleinstadt in England. Während Jake täglich zur Universität pendelt, arbeitet Lucy von zu Hause aus und kümmert sich um die Kinder. Doch eines Nachmittags zerstört ein Anruf die Familienidylle: David Holmes möchte Lucy wissen lassen, dass Jake eine Affäre mit dessen Frau hat. Der Pakt, den das Paar daraufhin schließt, bleibt nicht ohne Folgen. Lucys Körper und Geist beginnen sich allmählich zu verändern, die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmen – eine Verwandlung, die sich nicht mehr aufhalten lässt.

„Die Harpyie“ der Engländerin Megan Hunter hat in ihrem Heimatland schon für größeres Aufsehen gesorgt. „Die Harpyie“ ist eine anspruchsvolle literarische Betrachtung einer Ehe, wenn Betrug und Lügen Einzug halten. Und welch gewaltiger Strudel sich dann hinter den nachbarschaftlichen Türen entwickeln kann. Der Beginn ist stakkatohaft, wie hinter einem dünnen Vorhang beginnt sich die Geschichte um Lucy und Jake und ihrer Ehe herauszuschälen. Doch nach und nach bekommt die Geschichte immer mehr Wucht und Wahrheit, mehr Deutlichkeit und Aussagekraft. Megan Hunter lässt durch Lucys Augen das Familien- und Eheleben auf die LeserInnen los. In einer hypnotisierend klaren Sprache erzählt „Die Harpyie“ von einer Frau und einer Ehe am Abgrund!

C. H. Beck, 229 Seiten; 22,00 Euro

  Eva Ladipo – Räuber

Als die Sozialwohnung verkauft wird, in der er mit seiner Mutter lebt, weiß Olli Leber, was das zu bedeuten hat: Menschen wie er haben kein Recht mehr auf ein Leben im Zentrum Berlins. Doch der junge Bauarbeiter will sich nicht stillschweigend entsorgen lassen und bläst zum Gegenangriff. In Amelie Warlimont findet Olli eine unverhoffte Mitstreiterin, denn die bekannte Journalistin hat alte Rechnungen zu begleichen und ihre eigenen Gründe, sich von der Stadt verraten zu fühlen. Gemeinsam ziehen die beiden in einen Kampf um Gerechtigkeit. Ein Kampf, der immer mehr außer Kontrolle gerät.

Die Deutsche Eva Ladipo, die in London lebt, hat 2015 mit ihrem Roman „Wende“ einige Beachtung erlangt. Nun sechs Jahre später erscheint ihr neuer Roman „Räuber“. Die Geschichte hört sich spannend und nach einem großen deutschen Gesellschaftsroman an. Die Lektüre war daher mit großer Vorfreude verbunden. Diese wurde schnell enttäuscht, denn Eva Ladipo weiß nicht, wann es genug ist. Viele ihrer Kapitel sind nicht auf den Punkt gebracht. Da laufen Dialoge aus dem Ruder, oder belanglose Beschreibungen werden in die Länge gezogen, oder ganze Szenen werden so aufgebläht, dass man froh ist, wenn es endlich mit dem nächsten Kapitel weitergeht. Das ist schade, denn „Räuber“ hätte ein so guter und großer Roman über ein so gesellschaftlich und politisch brennend aktuelles Thema werden können. Wohnungsnot, und was es mit den Menschen macht, auf beiden Seiten, die die leiden, und die, die profitieren. Natürlich findet sich das alles in „Räuber“ wieder, aber die Darreichung ist mit Schimmel überzogen, wie eine Wohnung, die saniert werden muss, bevor sie erstrahlt.

Blessing, 539 Seiten; 24,00 Euro

  Anne Prettin – Die vier Gezeiten

Die Kießlings gehören zu Juist wie die Gezeiten. Als Patriarch Eduard das Bundesverdienstkreuz erhält, kommen sie alle zusammen: Eduards Frau Adda, die drei Töchter, sowie Großmutter Johanne. Doch in die Generalprobe platzt Helen aus Neuseeland, die behauptet, mit der Sippe verwandt zu sein. Und tatsächlich: Sie ist Adda wie aus dem Gesicht geschnitten. Gemeinsam gehen sie dem Rätsel ihrer Herkunft nach. Denn Adda ahnt: Der Schlüssel zur Wahrheit liegt im familieneigenen Hotel de Tiden, dort, wo vor 75 Jahren alles begann.

Der charmanten Anne Prettin ist mit ihrem Debütroman „Die vier Gezeiten“ gleich ein Lese-Highlight gelungen! Die Geschichte erstreckt sich fast über ein dreiviertel Jahrhundert, von 1934 bis 2008, und man bekommt als LeserIn einzelne Charaktere in jungen Jahren und im Alter geschildert, was sie alles erlebt haben auf Juist und was das Leben mit ihnen gemacht hat. Die Geschichte nimmt einen schnell gefangen, man verwebt sich als LeserIn mit der Familie, den Schwestern und den großen Geheimnissen, die über allen lasten. Diese Geheimnisse erzeugen unerhört viel Spannung. Dazu die einprägenden Charaktere, mit denen man über die Jahrzehnte mitfiebert. „Die vier Gezeiten“ wirbeln einen gehörig durcheinander! Am Ende ist man traurig, wenn man sich von Frauke, Theda, Marijke, Helen, Adda und Johanne für immer verabschieden muss. Da bleibt eigentlich nur, „Die vier Gezeiten“ gleich wieder von vorne zu lesen.

Lübbe, 479 Seiten; 22,00 Euro

Auch als Hörbuch erhältlich bei Lübbe Audio. Julia von Tettenborn veredelt die Geschichte mit ihrer Stimme! 20,00 Euro.

Anne Prettin – Die vier Gezeiten – Hörprobe 7:39 Min

 Barbara Demick – Buddhas vergessene Kinder

Sich selbst verbrennen oder nicht? Der Junge hadert. Sein bester Freund hat es bereits getan – aus Protest gegen die chinesische Regierung, die Tibetern jeglichen gesellschaftlichen Aufstieg verwehrt, ihre Freiheit beschneidet und ihre Kultur zerstört. Das Buch schildert das Schicksal von acht Menschen, die in der ost-tibetischen Stadt Ngaba leben – einer Stadt, die als Zelle des Widerstands gilt und nicht zuletzt wegen der vielen Selbstverbrennungen besonders unter chinesischen Repressalien leidet. Die Geschichte gibt Einblicke in den tibetischen Alltag abseits der touristischen Sehnsuchtsorte. Es ist ein Alltag, der geprägt ist vom Kampf zweier Kulturen, vom Ringen Tibets um politische Selbstbestimmung und kulturelle Identität, von Unterdrückung und Gewalt, von verborgenem Leid und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Der amerikanischen Journalistin Barbara Demick gelingt mit „Buddhas vergessene Kinder“ ein eindringlicher Bericht über 60 Jahre Tibet und was es mit den Menschen gemacht hat. Berührend, ergreifend und sehr nachdenklich stimmend! Die Hauptthemen sind: „1958 – 1976 (u. a. Die letzte Prinzessin, Die Rückkehr des Drachen, Ein echtes chinesisches Mädchen)“, „Interregnum 1976 – 1989 (u. a. Eine tibetische Schule)“, „1990 – 2013 (u. a. Wilder kleiner Yak, Ein Mönchsleben, Der Partylöwe, Der Aufstand, Mönch in Flammen)“ und „Von 2014 bis zur Gegenwart (Indien und Alles außer Freiheit)“.

Droemer, 383 Seiten; 22,00 Euro

  George Orwell – Farm der Tiere

Die Tiere auf dem Bauernhof des Säufers Mr Jones leiden unter dessen gewalttätigem Regiment. Aber genug ist genug! Die intelligenten Schweine um Napoleon arbeiten ein Programm für die Befreiung vom menschlichen Unterdrücker aus. Die Rebellion ist erfolgreich, Mr Jones wird vertrieben. Doch allmählich bilden sich auch unter den Tieren ähnliche verheerende Machtstrukturen heraus.

George Orwell (1903 – 1950) ist bekannt für seinen visionäre Roman „1984“. Aber nicht weniger bedeutend ist seine immerzu aktuelle politische Fabel „Farm der Tiere“, die aufzeigt, wie selbst die, die sich aus der Unterdrückung befreien, zu Unterdrückern werden können. Als ich „Farm der Tiere“ das erste Mal in meiner Jugend gelesen habe, hat es mich gepackt und erschüttert zugleich. Auch drei Jahrzehnte später hat sich daran nichts verändert. DTV bringt mit dieser schicken Ausgabe eine Neuübersetzung von Lutz-W. Wolff auf den Markt.

dtv, 192 Seiten; 20,00 Euro