Kolumne vom 10.09.2018 – Nr.525
Augustin Erba
Die auffällige Merkwürdigkeit des Lebens
Wer kann schon von sich behaupten, einen genialen Atomphysiker als Vater zu haben und eine ungarische Prinzessin als Mutter? Für das echte Leben geschaffen ist Amadeus‘ ungewöhnliche Familie aber nicht: Die Mutter verschanzt sich mit Migräne hinter der Schlafzimmertür, der Vater rechnet den ganzen Tag, wenn er nicht grad die Fassung verliert. Amadeus übernimmt die Rolle des Erwachsenen und kümmert sich um seine Geschwister. Nur Schäferhund Felix ist sein Verbündeter und das einzige Familienmitglied, das umarmt werden kann. Jahrzehnte später ist Amadeus Journalist, Single und lernt ganz überraschend eine Frau kennen, die ihn doch tatsächlich zu lieben scheint. Aber Beladen mit all seinen Kindheitsproblemen wird die zukünftige Ehe nicht einfach werden …
Lakonisch, gescheit, melancholisch und literarisch verführerisch, das ist dieser Roman des Schweden Augustin Erba. Er erzählt zugleich eine heitere und schwere Familiengeschichte in einem ganz leichten und feinfühligen Ton. „Die Auffälligkeit des Lebens“ ist aber auch ein Roman über die Liebe und eine Ehe. In prägnanten Schlaglichtern zeigt Augustin Erba wie aus Verliebtheit eine Ehe wird, es werden Kinder geboren, die das Eheleben nicht einfacher machen. Und aus einstiger Verliebtheit wird nach und nach Entfremdung. Mit Amadeus ist Augustin Erba ein herrlicher Charakter gelungen, den man versteht, den man nicht versteht, mit dem man hofft und bangt, dass er das Leben meistert, als Kind und als Erwachsener. „Die Auffälligkeiten des Lebens“ sind anspruchsvoll verfasst. Augustin Erba wechselt fast bei jedem Kapitel zwischen Amadeus’ Kindheit zu Amadeus’ Gegenwart hin und her. Ohne Zeitangaben, daher ist ein konzentriertes Lesen schon erforderlich. Aber man gewinnt dadurch auch einen besonderen Blick auf Amadeus’ Leben. Ein sehr weiser Satz aus dem Buch: „Wenn Liebe immer reichen würde, sähe die Welt ganz anders aus.“
Ullstein, 423 Seiten; 22,00 Euro
Ann Baiano
Sizilianisches Verderben
Der Journalist Luca Santangelo recherchiert in einem Kloster mitten in Palermo. Einst war es berühmt, jetzt leben hier nur noch drei betagte Nonnen. Als eine von ihnen zusammenbricht, wird Luca misstrauisch – sie scheint keines natürlichen Todes gestorben zu sein. Will jemand die Schwestern beseitigen, um an die wertvollen Schätze des Klosters zu kommen? Geht es um etwas Persönliches? Während Luca noch das wahre Motiv sucht, ereignet sich ein weiterer Mord. Lucas Freundin Ada stößt währenddessen in der Bibliothek des Klosters auf ein altes Tagebuch, dem eine junge Nonne die Geschichte um eine große Liebe anvertraut hat, um falsche Versprechen und bittere Rache …
Ann Baiano hat mich mit ihrem Debüt „Sizilianisches Blut“ begeistert. Auch der Nachfolger „Sizilianische Rache“ war noch spannend. Der dritte Krimi aus ihrer Feder „Sizilianisches Verderben“ fällt nun etwas ab. Positiv zu vermerken bleibt der Charme der Serie rund um die Hauptfigur Luca Santangelo und Sizilien. Am meisten haben mich aber die viel zu häufigen und langweiligen Abschweifungen in die historische Vergangenheit ab 1830 geärgert. Auch sonst kann der Krimi mit wenig aufwarten, was einen wirklich guten Krimi ausmacht. Und Ann Baiano, das Pseudonym einer Verlagsleiterin, sind auch die Ideen für einen konsequenteren Spannungsaufbau ausgegangen. Hatte ihr Debütkrimi noch 320 Seiten, der zweite dann schon nur noch 288 hat „Sizilianisches Verderben“ nur noch 281 Seiten. Wären die häufigen Abschweifungen in die Vergangenheit nicht, würden nur noch etwas über 200 Seiten übrigbleiben. Das sagt dann eigentlich schon alles.
Goldmann, 281 Seiten; 15,00 Euro
Luce D’Eramo
Der Umweg
Sie ist achtzehn Jahre alt, begeisterte Faschistin und kann die Nachrichten von Konzentrationslagern im nationalsozialistischen Deutschland nicht glauben. Also macht sich Luce d’Eramo im Jahr 1944 nach Deutschland auf. Ihre Reise führt sie durch Arbeits- und Konzentrationslager, durch ein zerbombtes und auch innerlich zerrüttetes Land. Am Ende verliert sie ihre körperliche Unversehrtheit, aber auch die Illusionen über eine zerstörerische Ideologie.
Luce D’Eramo (geboren 1925 in Reims, verstorben 2001 in Rom) legt mit ihrem Buch „Der Umweg“ ein bewegendes Stück Zeitgeschichte vor! Man spürt bei jeder Zeile, das, was Luce d’Eramo hat durchmachen und erleiden müssen. Sie erzählt sehr plastisch. Man spürt den Dreck in den Händen, den Schmerz am Körper, die Geißelung der Seele. „Der Umweg“ ist Literatur in einer harten und klaren Form! „Der Umweg“ ist keine durchgängig erzählte Geschichte, aber das tut der Qualität, dem Schrecken der Erzählung keinen Abbruch. Es ist in vier große Kapitel unterteilt: „Flucht aus den Lagern“, „Unter den Steinen“, „Erste Ankunft im Dritten Reich“ und „Der Umweg“.
Klett Cotta, 479 Seiten; 24,00 Euro
Regena Thomashauer
Pussy
Die Pussy, das weibliche Geschlechtsorgan, ist weit mehr, als wir bisher dachten. Die Autorin ermutigt Frauen, das oft vernachlässigte Zentrum weiblicher Kraft, Macht, Lust und Freude neugierig zu erkunden und liebevoll zum Leben zu erwecken. Sie meint, die Pussy hat gar eine eigene Intelligenz, der Frau sich getrost anvertrauen darf, wenn es um wichtige Lebensentscheidungen oder auch spontanes Vergnügen geht. Das sinnliche Bewusstsein, dessen Sitz die Pussy ist, ist laut der Autorin sogar essenziell wichtig für unsere spirituelle, intellektuelle und emotionale Gesundheit.
Was für ein Buchtitel! Er bringt den Inhalt auf den Punkt: „Pussy“. Nicht wenige Frauen trauen sich das Wort für ihre „Göttin“ ja gar nicht aussprechen, die Amerikanerin Regena Thomashauer tut das in dem Buch gefühlt einhunderttausendmal. Nach dieser Lektüre werden die Leserinnen sich und ihre Körpermitte anders sehen. Ein Buch, das Frauen stärken und ihnen Mut machen kann! „Wohin wird deine Pussy dich mitnehmen, wenn du ihr die Schlüssel zuwirfst und sie fahren lässt?“ Eine der Fragen dieses Buches. Lassen Sie sich überraschen, wo die Lektüre mit ihnen „hinfährt“.
Arkana, 313 Seiten; 16,00 Euro
Hugo Boris
Die Polizisten
Am Ende eines heißen Sommertags werden die Polizisten Virginie, Aristide und Érik mit einem Sondereinsatz beauftragt: Sie sollen einen Flüchtling, dessen Antrag auf Asyl abgelehnt wurde, zum Flughafen bringen. Schnell begreift Virginie, dass den Mann in seiner Heimat der sichere Tod erwartet. Sie und ihre Kollegen geraten in einen Gewissenskonflikt: Gehorsam leisten oder den eigenen moralischen Instinkten folgen? Die Fahrt nach Roissy wird zu einer schweren Prüfung, aus der keiner der Beteiligten unversehrt hervorgeht, wenngleich jeder andere Konsequenzen für sich daraus zieht.
Ein hochaktueller, mitreißender und packender Roman über ein Thema, zu dem alle eine Meinung haben! Der Franzose Hugo Boris greift in „Die Polizisten“ eine ergreifende Geschichte auf, wie sie sich fast wöchentlich in Frankreich und auch bei uns abspielt. Was ist der richtige Umgang mit Asyl, Einwanderung und am Ende auch mit der Demokratie. Ein Buch, dass unsere gesellschaftlich schweren Zeiten gekonnt einfängt. Zudem zeigt es die schwere Arbeit der „einfachen“ Polizisten, die Tag für Tag einen äußerst schwierigen Job zu erledigen haben.
Ullstein, 185 Seiten; 20,00 Euro
Hörbuch der Woche
Linda Castillo
Ewige Schuld
Seit zwei Jahren sitzt Joseph King wegen des Mordes an seiner Frau Naomi hinter Gittern. Er gilt als ein „gefallener“ Amischer, einer der ständig mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Doch diese Tat hat er immer vehement bestritten. Jetzt ist er ausgebrochen, hat seine fünf Kinder als Geiseln genommen. Als Kate Burkholder die Kinder auf eigene Faust befreien will, wird sie von King überwältigt. Seine Forderung an sie lautet: Du kannst gehen, aber finde den Mörder meiner Frau! Als Kate diesen zwei Jahre alten Fall wieder aufgreift, ahnt sie noch nicht, wie gefährlich diese Ermittlung werden …
„Ewige Schuld“ ist der neunte Fall für die Kult-Ermittlerin Kate Burkholder. Ein Kriminalroman mit zahlreichen Überraschungen und Wendungen, der bis zum Schluss spannend bleibt! Auch wenn ich schon von Anfang an so eine gewisse Ahnung hatte, die sich dann auch bestätigt hat, hat das für mich an der Qualität des Krimis nichts eingebüßt. „Ewige Schuld“ beweist erneut, dass der amerikanische Bestsellerautorin Linda Castillo die Ideen nicht ausgehen, wie man in der Amisch-Gemeinde Mord und Totschlag praktisch auf der Tagesordnung stehen lassen kann. „Ewige Schuld“ wird erneut, zum neunten Mal, von Tanja Geke (u. a. leiht sie Hollywoodstar Zoe Saldana die Stimme) gelesen. Sie ist in dieser Zeit zu Kate Burkholder geworden. Sie verleiht der Figur durch ihre Stimme Stärke und Empathie. Hörprobe
Auch als Taschenbuch erhältlich bei Fischer, 10,99 Euro.
Argon Hörbuch, 6 CDs, 454 Minuten; 19,95 Euro
Denglers-buchkritik.de