BuchKolumne 20.04.2020 Nr. 609
Bei denglers-buchkritik.de kannst Du jeden Montag neue Rezensionen und Buchkritiken lesen und Dir Tipps und Anregungen für neuen Lesestoff holen – egal ob Roman, Krimi, Science-Fiction oder Thriller.
Mitchell Zuckoff – Stern 111
Zwei Tage nach dem Fall der Mauer verlässt das Ehepaar Bischoff sein altes Leben – die Wohnung, den Garten, seine Arbeit und das Land. Ihre Reise führt die beiden Fünfzigjährigen über Notaufnahmelager und Durchgangswohnheime, und sie folgen einem langen gehegten Traum, von dem selbst ihr Sohn Carl nichts weiß. Carl wiederum, der den Auftrag verweigert, das elterliche Erbe zu übernehmen, flieht nach Berlin. Er lebt auf der Straße, bis er in den Kreis des „klugen Rudels“ aufgenommen wird, einer Gruppe junger Frauen und Männer, die dunkle Geschäfte, einen Guerillakampf um leerstehende Häuser und die Kellerkneipe Assel betreibt. Im U-Boot der Assel schlingert Carl durch das archaische Chaos der Nachwendezeit, immer in der Hoffnung, Effi wiederzusehen, „die einzige Frau, in die er je verliebt gewesen war“.
Lutz Sailer erhielt für „Stern 111“ den Preis der Leipziger Buchmesse, die dieses Jahr ja leider nicht stattfinden konnte. Lutz Seiler hat ein Auge fürs Detail, ohne dabei ausschweifend zu werden. Sein Stil verleiht der Geschichte Flügel. Die Geschichte selbst gleicht auch einem Flug – in ein anderes Leben. Lutz Seiler nimmt einen mit auf eine spannende Reise gelebter deutscher Geschichte. Auch wenn seine Figuren nur Fiktion sind, so wirken sie doch alle real. Die Geschichte wird auf zwei Ebenen erzählt. Die eine handelt von Carl und seinen vielfältigen neuen Berlin-Erfahrungen, die andere von den Eltern und ihrem neuen Leben in der BRD, die auf besondere Weise auch von Carl erzählt wird. „Stern 111“ vermittelt gekonnt, modern und literarisch deutsche Geschichte um die Wendezeit!
Suhrkamp, 528 Seiten; 24,00 Euro
Stephan Ludwig – Unter der Erde
Volkow, ein Dorf am Rand eines riesigen Tagebaugebiets. Täglich fressen sich die Bagger näher heran, in einigen Monaten wird das Dorf verschwunden sein. Doch die Bewohner bleiben. Elias Haack kommt an einem heißen Sommertag nach Volkow. Die Neugier auf seinen Großvater Wilhelm hat ihn in das so malerische wie abgelegene Dorf gebracht. Elias hat Wilhelm seit über dreißig Jahren nicht mehr gesehen, doch das Wiedersehen währt nur kurz. Wilhelm stirbt, und Elias strandet bei der Suche nach seiner Herkunft in Volkow. Es führt zwar ein Weg ins Dorf, aber wie es scheint, keiner mehr heraus. Je länger er im Haus seines Großvaters bleibt, desto merkwürdiger kommen ihm die Dorfbewohner vor. Warum harren sie aus, obwohl die Bagger von Tag zu Tag näher rücken? Was haben sie zu verbergen? Und was hat das alles mit Elias zu tun?
Stephan Ludwigs „Zorn“-Thriller sind Kult! Von seinen Ermittlern Zorn und Schröder kann man gar nicht genug bekommen. Doch nun geht Stephan Ludwig „fremd“, mit „Unter der Erde“ hat er einen Thriller außerhalb seiner Thriller-Reihe geschrieben. Ein Versuch der gescheitert ist, was man eigentlich gar nicht so richtig glauben kann, wenn man Stephan Ludwigs „Zorn“-Thriller kennt. „Unter der Erde“ klingt erstmal ganz spannend und so beginnt das Buch auch, aber schnell entwickelt es sich in eine falsche Richtung. Zäh, langweilig, überkonstruiert und am Ende gar noch konfus. Und bei allem haben mich die Figuren auch nicht erreicht. „Unter der Erde“, ja, das ist auch das, was man mit diesem Buch machen sollte, ab damit unter die Erde.
Scherz, 395 Seiten; 14,99 Euro
Camilla Sten – Das Dorf der toten Seelen
Alice Lindstedt hat gerade die Filmhochschule in Stockholm abgeschlossen und plant, ihren ersten Dokumentarfilm zu drehen: über Silvertjärn, einen abgelegenen Grubenort im Wald von Norrland. Vor 60 Jahren verschwanden unter ungeklärten Umständen alle Bewohner von einem Tag auf den anderen. Kurz zuvor zog ihre Großmutter von dort weg. Alice will herausfinden, was damals geschehen ist. Mit ihrem Team bricht sie zu dem einsamen Ort auf. Doch bald geschehen seltsame Dinge. Die Handys haben keinen Empfang, im Walkie-Talkie ist ein heiseres Lachen zu hören. Und kurz darauf ist der erste aus dem Team tot. Wer ist außer ihnen noch in Silvertjärn? Was ist damals passiert? Und vor allem: Werden Sie diesen grausamen Ort lebend verlassen?
„Das Dorf der toten Seelen“ zieht einen sofort in seinen Bann! Die Story hört sich so unglaublich verrückt an: 900 Personen verschwinden und keiner weiß, was aus ihnen geworden ist. Das schreit ja geradezu nach einem echten Gänsehautthriller a la „Blair Witch Project“ & Co. Man möchte unbedingt erfahren, was hinter diesem geheimnisvollen Verschwinden steckt und daher fliegen die Seiten nur so in Windeseile davon. Und die sind gespickt mit leiser anschleichender Spannung und vielen Gänsehautmomenten. „Das Dorf der toten Seelen“ ist das Debüt der Schwedin Camilla Sten, Tochter der Bestsellerautorin Viveca Sten. Sie erzählt die Geschichte auf zwei Ebenen, „Heute“ und „Damals“, so erfährt man nach und nach, was sich in dem Dorf wirklich alles zugetragen hat.
HarperCollins, 383 Seiten; 14,00 Euro
Christian Baron – Ein Mann seiner Klasse
Kaiserslautern in den neunziger Jahren: Christian Baron erzählt die Geschichte seiner Kindheit, seines prügelnden Vaters und seiner depressiven Mutter. Er beschreibt, was es bedeutet, in diesem reichen Land in Armut aufzuwachsen. Wie es sich anfühlt, als kleiner Junge männliche Gewalt zu erfahren. Was es heißt, als Jugendlicher zum Klassenflüchtling zu werden. Was von all den Erinnerungen bleibt. Und wie es ihm gelang, seinen eigenen Weg zu finden.
Der Ullstein-Verlag lässt den Claassen-Verlag wiederaufleben und füllt ihn auch gleich mit einem richtig guten Programm! Der frische und freche „Superbusen“ von Paula Irmschler ist sehr lesenswert! Doch das ist nicht der einzige – „Ein Mann seiner Klasse“ ist ein weiterer. „Ein Mann seiner Klasse“ ist ein Buch von großer Klasse! Es zeigt ein Gesellschaftsbild, das sonst gerne verzerrt wahrgenommen wird. Er legt den Finger in die Wunde, die da Leben heißt. Von rosarot und golden sind wir ganz weit weg, aber ganz schwarz ist es nun auch nicht, sondern auf seine Art sogar witzig im gelebten Unglück.
Claassen, 284 Seiten; 20,00 Euro
Anna Benning – Vortex
Für Elaine ist es der wichtigste Tag ihres Lebens: In Neu London findet das spektakuläre Vortexrennen statt, und sie ist eine der Auserwählten. Hunderte Jugendliche jagen bei dem Wettkampf um den Globus – doch nicht zu Fuß. Sie springen in die Energiewirbel, die die Welt vor Jahrzehnten beinahe zerstört haben. Der Sprung in einen Vortex ist lebensgefährlich, doch gelingt er, bringt er einen wie ein geheimes Portal in Sekunden von einem Ort zum anderen. Elaine will das Rennen um jeden Preis gewinnen. Doch mitten im Vortex erwacht eine Macht in ihr, die die Welt erneut erschüttern könnte. Und der Einzige, der Elaine nun zur Seite stehen kann, ist ein Junge, der nichts mit ihr zu tun haben will …
Eine spektakuläre Fantasy-Trilogie mit großartigen Ideen und mächtig viel Spannung! Das kann man schon nach dem ersten Band sagen. Die junge Anna Benning (Jahrgang 1988) hat sich in „Vortex“ auf fantastische Weise kreativ ausgetobt. Sie nimmt bewährte Muster des Genres und macht daraus reichlich Neues. Eine spannende Heldin und zahlreiche weitere einprägsame Figuren lassen einen noch ungeduldiger auf den zweiten Teil der Saga warten.
FJB, 495 Seiten; 17,00 Euro