April 30, 2024

Kolumne 03.10.2022

BuchKolumne 03.10.2022 Nr. 737

Stephen King – Fairy Tale
Christoph Peters – Der Sandkasten
Naomi Krupitsky
Die Familie
Daniel Wolf – Im Bann des Adlers
Timothy Snyder – Bloodlands

      Stephen King – Fairy Tale

fairy tale stephen king

Der 17-jährige Charlie Reade hat kein leichtes Leben. Seine Mutter starb, als er drei war, und sein Vater war dem Alkohol verfallen. Eines Tages offenbart ihm der von allen gemiedene mysteriöse Nachbar Mr. Bowditch kurz bevor er stirbt auf einer MC-Kassette ein Geheimnis, das Charlie schließlich auf eine abenteuerliche Reise in eine andere, fremde Welt führt. Dort treiben mächtige Kreaturen ihr Unwesen. Die unterdrückten Einwohner sehen in Charlie ihren Retter. Aber dazu muss er erst die Prinzessin, die rechtmäßige Gebieterin des fantastischen Märchenreichs, von ihrem grausamen Leiden befreien.

Oh, Mr. King, warum sind Sie nur ein so großartiger Autor? Der weltbeste Autor, wenn man Ihr Gesamtwerk betrachtet. Es wird nie wieder einen Autor geben wie Sie. Umso schwerer wird es werden, wenn es mal keine Bücher mehr von Ihnen geben wird. Die Welt wird ein trauriger Ort sein ohne Ihre grandiosen Geschichten. Ein Loblied auf Stephen King. Und sein neues Werk „Fairy Tale“ übertrifft wieder alles, was sonst auf dem Buchmarkt zu finden ist. Die ersten gut 300 Seiten haben gar nichts mit der „Fantasy-Geschichte“ zu tun, sondern die spielen in der ganz normalen Welt. Dort kümmert sich Charlie um seinen alten, kranken und borstigen Nachbarn Mr. Bowditch und seiner ebenso alten und kranken Schäferhündin Radar. Diese Geschichte ist eigentlich schon ein ganz eigener Roman. Und wie großartig und einfühlsam Stephen King diese Geschichte erzählt, bevor Charlie dann zu seinem ganz großen Abenteuer aufbricht. Grandios! In der anderen Welt riskiert Charlie sein Leben, um Radars Leben wieder besser zu machen, um Radar wieder jünger und gesund zu machen. Wer selbst einen älteren Hund hat, wie ich, lebt diese Geschichte noch einmal ganz anders mit. Puh! Doch mit Radars Verjüngung ist es in der anderen Welt nicht getan, denn dann geht es für Charlie dort erst richtig los! Zum Ende hin resümiert Charlie dann treffend: „In dieser Welt war ich ein Prinz gewesen. In der über mir musste ich Bewerbungen fürs College schreiben und den Müll rausbringen.“ Eine ganz wunderbare Geschichte! Schön, traurig, dramatisch, hoffnungsvoll, spannend, eben ein Stephen-King-Roman der Extraklasse!

Heyne, 877 Seiten; 28,00 Euro

    Christoph Peters – Der Sandkasten

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Siebenstädter hat schon alles gesehen. Als Moderator einer Politsendung im Radio kennt er sich aus mit den Spielregeln der Berliner Spitzenpolitik, dem Schattenreich der Hinterzimmer, mit der Gnadenlosigkeit eines Betriebs, dem es nur um Machterhalt geht. Siebenstädter ist so beliebt wie berüchtigt, einer, der an gar nichts glaubt und sich prädestiniert fühlt, die Lügen der Eliten aufzudecken. Mit der Coronakrise jedoch verändert sich das Spiel: Siebenstädter hat ebenso Zweifel an den staatlichen Maßnahmen wie Abscheu gegenüber Verschwörungsgläubigen. Unerwartet erhält er das Angebot der Liberalen, die Seiten zu wechseln, während Maria Andriessen, aufsteigender Stern der Sozialdemokratie, sich mehr für ihn zu interessieren scheint, als es bei einem verheirateten Mann angemessen wäre. Vor allem aber spürt Siebenstädter, dass seine Zeit langsam abläuft – warum also nicht alles auf eine Karte setzen?

Christoph Peters Autorenkarriere verfolge ich nun schon gut zwei Jahrzehnte. Immer wieder hat er mal einen Roman geschrieben, von dem ich angetan war, dann folgte wieder ein Totalflop. Literarisch meist angenehm, inhaltlich eher mau. Sein neuer Roman „Der Sandkasten“ ist so ein Zwischending geworden. Der Verlag schwärmt von diesem Buch und sagt darüber: Eine schonungslose Bestandsaufnahme der politischen Kultur eines ganzen Landes. Das ist ins oberste Regal gegriffen. Eindeutig zu hoch. „Der Sandkasten“ gehört eher in die mittleren Regale. Nicht schlecht, aber auch nicht richtig gut, das trifft es eher. Christoph Peters fängt die Zeit, die Strömungen, die Politik, die Gesellschaft immer wieder richtig gut ein, aber die ganze Story wirkt bruchstückhaft. Der große Spannungsbogen fehlt. Auch verplappert sich Christoph Peters sehr gerne, das macht das Lesen dann anstrengend. Literarisch spielt man als LeserIn im „Sandkasten“ manchmal ganz gerne, aber man ist auch froh, wenn der Sand wieder aus den Schuhen raus ist.

Luchterhand, 253 Seiten; 22,00 Euro

    Naomi Krupitsky – Die Familie

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Brooklyn, New York, 1928: Die Freundinnen Antonia und Sofia werden ins Mafia-Milieu hineingeboren, von klein auf sind sie unzertrennlich und doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Sofia Colicchio ist ein Freigeist, ein wildes, ungezähmtes Wesen. Antonia Russo ist bedacht, beobachtet still die Welt um sich herum. Als Antonias Vater es wagt, von einem Leben außerhalb der „Familie“ zu träumen, verschwindet er plötzlich. Dieses Ereignis treibt einen unsichtbaren Keil zwischen die beiden Freundinnen. Innerhalb der engen Grenzen ihres Umfelds versuchen sie, ihre eigenen Wege zu gehen. Doch in einer schicksalhaften Nacht wird sowohl ihre Freundschaft als auch die Loyalität gegenüber der „Familie“ auf eine harte Probe gestellt.

„Die Familie“ war in den USA ein „New-York-Times“-Bestseller und ein großer Publikumserfolg! Naomi Krupitsky schaut in „Die Familie“ mit einem eher ungewöhnlichen Blick auf die Tätigkeitsfelder der Mafia. Das eigentlich nur ein Randgeschehen im Buch ist, denn die Geschichte wird aus der Sicht von zwei Mädchen, zwei Frauen erzählt. Die beide vom Charakter sehr entgegengesetzt sind. Nur ein Beispiel aus dem sehr eindringlichen Text möchte ich nennen: „Sofia liest Mädchen um Mädchen auf, verliebt sich in sie und lässt sie ebenso unvermittelt wieder fallen. Und trotzdem stehen sie Schlange, um mit ihr befreundet zu sein, denn es lohnt sich, zwei oder vier oder neun Wochen das Objekt von Sofias Aufmerksamkeit zu sein.“ „Die Familie“ ist ein Mafia-Roman, wie Sie ihn bisher noch nicht gelesen haben! Aus der Sicht von Sofia und Antonia wird eine Mädchen-, eine Frauenfreundschaft geschildert, die sich von 1928 bis 1948 erstreckt, inmitten der „Familie“. „Die Familie“ ist von großer sprachlicher Eleganz und in atemberaubender Geschwindigkeit erzählt!

dtv, 396 Seiten; 22,00 Euro

    Daniel Wolf – Im Bann des Adlers

im bann des adlers - daniel wolf

Friesland 1390: Der 21-jährige Folkmar Janns Osinga ist Schiffszimmermann mit Leib und Seele. Gemeinsam mit seinem Vater Jann baut er begehrte Koggen, das Unternehmen der Familie floriert. Als Folkmar die junge, kluge Almuth kennenlernt, scheint sein Leben perfekt. Doch dann wird er Opfer einer perfiden Intrige: Des Mordes bezichtigt, muss Folkmar fliehen, sowohl Almuth als auch seiner Heimatstadt den Rücken kehren. Verzweifelt versucht er, seine Unschuld zu beweisen. Seine Lage ist hoffnungslos – bis er den Vitalienbrüdern begegnet und sich den berüchtigten Piraten anschließt.

Daniel Wolf hat sich mit seinen historischen Romanen in den Olymp des Genres geschrieben! Mit seiner neuen Saga trumpft er nun erneut auf. Nach „Im Zeichen des Löwen“ folgt nun „Im Bann des Adlers“. Welch eine Entwicklung der Geschichte, ich war über 1.000 Seiten lang gefesselt. Es hätte auch gerne noch mehr Seiten sein dürfen. Daniel Wolf, bitte immer weiter so!

Goldmann, 1.054 Seiten; 15,00 Euro

    Timothy Snyder – Bloodlands

Bloodlands

Das Buch führt zusammen, was bis dahin getrennt betrachtet worden war und wenig miteinander zu tun zu haben schien: die Ermordung von 14 Millionen Menschen, die im Namen unterschiedlicher Ideologien sterben mussten, deren gewaltsamer Tod aber eine auffallende Gemeinsamkeit hatte: Sie starben alle im selben Zeitraum in derselben Region. Diese Region besteht aus einem historischen Raum, zu dem Westrussland, Belarus, Polen, die baltischen Staaten und die Ukraine gehören. Auch heute wieder wird in genau dieser Region ein äußerst brutaler Krieg geführt, wie ihn Europa seit 1945 nicht mehr gesehen hat. Russland führt im Namen von Putins Ideologie Krieg gegen die Ukraine, dabei von Belarus unterstützt. Wer versuchen will zu verstehen, warum diese vielfach blutgetränkte Erde, die «Bloodlands», bis in die Gegenwart Schauplatz von Gewaltverbrechen größten Ausmaßes sind und warum jedes Land die Geschichte dieser Verbrechen bis heute anders erzählt, der muss dieses brillante Buch lesen, dessen Autor seit vielen Jahren den Kurs Putins vorausgesagt hat.

„Bloodlands» ist eines jener Bücher, die mit einem Schlag den Blick auf die Geschichte verändern. Weltweit in mehr als vierzig Sprachen übersetzt, hat sein Titel sogar Eingang in die Alltagssprache gefunden. Timothy Snyder ist mit „Bloodlands“ ein sehr eindringlicher Blick in eine enorm düstere Zeit gelungen! Europa zwischen Hitler und Stalin, ein Europa, in dem überall Krieg herrschte. Auch heute, nach Putins kriegerischen Überfall auf die friedliche Ukraine ist der Krieg wieder in Europa angekommen. Mit diesem Wissen liest man dieses Buch des Schreckens noch einmal aus einem ganz anderen Blickwinkel. Die Hauptkapitel sind: „Die sowjetischen Hungersnöte“ „Klassenterror“, „Nationalitätenterror“, „Molotow-Ribbentrop-Europa“, „Ökonomie der Apokalypse“, „Endlösung“, Holocaust und Rache“, „Todesfabriken“, „Widerstand und Einäscherung“, „Ethnische Säuberungen“ und „Stalinistischer Antisemitismus“. Bei dieser Ausgabe handelt es sich um die bereits 6. und erweiterte Auflage.

C. H. Beck, 541 Seiten; 34,00 Euro