April 29, 2024

Kolumne 28.02.2022 Nr. 706

BuchKolumne 28.02.2022 Nr.706

Virginia Woolf – Montag oder Dienstag
Erin Kelly – Mutterliebe
Nadire Biskin 
– Ein Spiegel für mein Gegenüber
Anne Mette Hancock
– Grabesstern
Holler / Gaukel / Lesch / Lesch
– Erneuerbare Energien zum Verstehen und Mitreden

 Virginia Woolf – Montag oder Dienstag

Virginia Woolf - Montag oder Dienstag

Die in dieser Sammlung enthaltenen Geschichten sind oftmals „impressionistische“ Studien. Die intensive Betrachtung einer Schnecke, die unter einem farbigen Blütenmeer entlangkriecht, eines Reihers, der hoch in den Lüften schwebt, eines Kronleuchters, der im Licht zu flüssigem Grün zerfließt, oder auch nur einer Stelle an der Wand im Schein des Kaminfeuers löst eine Vielfalt von Eindrücken, Assoziationen und Perspektivwechsel aus. Bereits in diesen frühen Erzählungen setzt Woolf das Stilmittel des Bewusstseinsstroms ein, der ihre berühmten späteren Romane wie z.B. „Mrs Dalloway“ kennzeichnet – die Geschichten sind somit erste wichtige Fingerübungen einer Schriftstellerin von Weltrang.

Virginia Woolf (1882 – 1941) gilt als eine der wichtigsten Autorinnen der Moderne, ihre Romane gehören zum Kanon der Weltliteratur. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete Virginia Woolf 1917 den Verlag „The Hogarth Press“. Dort veröffentlichte sie 1921 den mit der Handpresse gedruckten Band „Monday or Tuesday“, der mit Holzschnitten ihrer Schwester Vanessa Bell illustriert wurde. Virginia Woolf veröffentlichte zu ihren Lebzeiten nur ein Buch mit Kurzgeschichten. Dieses. In Auswahl und Abfolge ist die nun vorliegende Neuübersetzung von Antje Rávik Strubel dieser Erstausgabe nachempfunden. Das Buch hat somit eine berühmte Übersetzerin, die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises von 2021. Antje Rávik Strubel erzählt am Ende des Buches ihre Eindrücke zu den Geschichten und zu Virginia Woolf. Zuvor gibt es aber acht sehr kurze und einige längere Geschichten der großen Autorin. Jede für sich ein kleines literarisches Juwel! Die Titel sind: „Ein Geisterhaus“, „Eine Gesellschaft“, „Montag oder Dienstag“, „Ein ungeschriebener Roman“, „Das Streichquartett“, „Blau und Grün“, „Kew Gardens“ und Die Stell an der Wand“. Mir hat besonders „Eine Gesellschaft“ gefallen. Dort schreibt Virginia Woolf mit spitzer Feder und feinem Humor. Diese Geschichte habe ich gleich noch ein zweites Mal gelesen. Dort schreibt sie für mich auch DEN Satz dieses Buches: „Wir sind darin übereingekommen, dass das Ziel des Lebens darin besteht, gute Menschen und gute Bücher hervorzubringen“.

C. H. Beck, 106 Seiten; 16,00 Euro

 Erin Kelly – Mutterliebe

Sie war siebzehn, als sie in die Großstadt floh, ihre Familie und ihren Freund Jesse zurückließ. Und die Leiche, die sie beide begruben. Jetzt ist Marianne zurück, doch die Bedrohung von damals noch immer spürbar. Jesse hat ihr nie verziehen, dass sie ihn damals verließ, er droht ihr, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Das kann sie nicht zulassen, sie muss ihr neues Leben, ihre kleine Familie, ihren Mann und ihre sensible Tochter schützen. Für sie würde sie alles tun. Doch würde sie auch die Wahrheit sagen? Oder muss erst jemand zum Schweigen gebracht werden, damit sie ihr Glück weiterleben kann?

„Ein Thriller mit Nervenkitzel-Garantie! ‘Vier. Zwei. Eins’ – Meins! Ein Buch, das Sie so schnell nicht wieder hergeben wollen. Mit einem Ende, das einen umhaut.“ Das schrieb ich 2018 über Erin Kellys Vorgängerroman. Die Autorin hat die Erwartungen an ihren neuen Roman so auf ein sehr hohes Niveau gehoben. Dem kann „Mutterliebe“ nicht gerecht werden. Erin Kellys Erzählweise ist durchaus wieder fesselnd, aber es fehlt einfach das unbedingt-dranbleiben-wollen. Die Leseliebe zur „Mutterliebe“ hat sich bei mir nicht entwickelt. Das lag auch an den Charakteren, die mich auch nicht richtig packen konnten. Erin Kelly baut wieder ein paar starke Wendung ein, was lobenswert ist. Ich bin zwiegespalten. Erin Kelly hat das Potenzial ihrer eigentlich guten Story nicht vollkommen ausgeschöpft.

Scherz, 428 Seiten; 15,00 Euro

   Nadire Biskin – Ein Spiegel für mein Gegenüber

Huzur ist bei ihrer Cousine in der Türkei auf Zwangsurlaub – in Berlin hat man sie bis auf Weiteres vom Referendariat suspendiert. Wenigstens verschafft ihr das „Kopftuchgate“ viel Zeit zum Nachdenken. Doch zurück in Berlin überschlagen sich noch am Abend ihrer Ankunft die Ereignisse – Huzur liest die verwahrloste zehnjährige Hiba auf, ein syrisches geflüchtetes Mädchen ohne Familie, und plötzlich muss sie sich kümmern – um ein fremdes Kind und um ihr eigenes Leben. Denn wie viel Verantwortung kann und will sie, die Aufsteigerin aus Wedding mit türkischen Wurzeln, übernehmen?

Nadire Biskin schreibt flüssig wie Ayran und süß wie Türkischer Honig! Mit Huzur, Berlinerin der dritten Generation und mit einem türkischen Migrationshintergrund, hat sie eine lebensnahe Hauptfigur erschaffen. In Huzur schlagen zwei Herzen, ein deutsches und ein türkisches. Wobei das türkische doch schneller schlägt. Trotzdem ist sie in der Türkei die Deutschländerin und in Deutschland die Türkin. Nadire Biskin geht in ihrem ersten – leider sehr kurzen – Roman mit leichter Hand auf die kulturellen Unterschiede ein und das leidige Thema, wann man denn nun eine „richtige“ Deutsche ist. Zudem verbindet sie Huzurs Geschichte mit dem der jungen Hiba. Das schafft einen ganz neuen Blick auf vieles. Das erste Drittel des Romans spielt in der Türkei, wo Huzur bei der Familienzusammenkunft entschleunigt, bevor es wieder ins turbulente Berlin geht, wo sie gefordert ist. Mit allem. Nadire Biskin erzählt flott und mit spitzer Feder. Sie schreibt bleibende Formulierungen und Sätze, wie: „Moloch aus Solidarität“ oder „Das ich nicht lache, was habe ich denn geschafft? Eher bin ich erschaffen in den Köpfen der Menschen“ oder „Ein Selamunaleyküm hier, ein Aleykümselam da. Der Frieden von hier nach dort und immer im Kreis“ oder „Dort würde sie ihren Kopf in den Schoß der Mutter legen, die ihre Haare streicheln würde, während Huzur erzählt. Die Geschichte der Müdigkeit, die Geschichte des Hamsterrads, die Geschichte des Ungenügend seins. Und die Mutter würde all diese Geschichten in ihrem Rock auffangen.“

dtv, 169 Seiten; 18,00 Euro

Anne Mette Hancock – Grabesstern

Eigentlich wollte Journalistin Heloise Kaldan nur einen Artikel über Sterbebegleitung schreiben. Doch als sie sich mit dem todkranken Jan Fischhof anfreundet, beginnt ihr die Sache nahezugehen. Jan scheint etwas auf dem Gewissen zu haben. Seine Hinweise führen Heloise nach Jütland, an die Flensburger Förde, zu einem langen zurückliegenden Fall. Heloises guter Freund Kommissar Erik Schäfer ist misstrauisch: Was weiß sie wirklich über Jan Fischhof? Heloise stößt in ein gefährliches Wespennest. Kann sie ihrer Intuition trauen?

Anne Mette Hancocks Kopenhagen-Thriller um die Investigativ-Journalistin Heloise Kaldan und dem Kommissar Erik Schäfer sind Platz-1-Bestseller in ihrer Heimat Dänemark. Auch bei uns schlagen Anne Mette Hancocks Thriller ein. Die ersten beiden Bücher der Reihe „Leichenblume“ und „Narbenherz“ waren erfolgreich und haben begeisterte LeserInnen hinterlassen. Nun liegt mit „Grabesstern“ der dritte Fall vor. Dieser kommt nicht ganz an die Vorgänger heran. Starker Beginn, dann wird es etwas gemächlich und unspannend, steigert sich aber nach und nach immer mehr, bis zum packenden Ende. Daher: „Grabesstern“ leuchtet hell am Thriller-Himmel!

Scherz, 378 Seiten; 15,00 Euro

Holler / Gaukel / Lesch / Lesch – Erneuerbare Energien zum Verstehen und Mitreden

Fossile Energieträger wie Kohle und Öl sind nicht mehr zeitgemäß. Ihre Nutzung verschärft den Klimawandel, und wir müssen sie so schnell wie möglich ersetzen. Nur, was sind gute Alternativen? Und reichen andere Energiequellen aus, unseren Energiehunger in Zukunft zu stillen? Sind sie so verlässlich wie die alten Energielieferanten?

In diesem durchgängig farbig illustrierten Buch untersuchen die Autoren gemeinsam mit Studierenden, die das Buch gestaltet haben, was erneuerbare Energien energietechnisch schaffen und wie sie sich im Vergleich untereinander bewerten lassen. Wer „Erneuerbare Energien“ bisher nur in den Nachrichten als abstrakten Überbegriff wahrgenommen hat, kann sich mit diesem Buch präzise einen Überblick über die Energiequellen der Zukunft verschaffen. Ein Buch, ein Bestseller, ein Blick in die bereits begonnene Energiezukunft! Die Hauptthemen sind: „Sonne“, „Biomasse“, „Wind“, „Wasserkraft“, „Wellen“, „Gezeiten“, „Geothermie“, „Weitere Energiequellen“, „Energiespeicher“ und „Kernenergie – Kernspaltung und Kernfusion“.

C. Bertelsmann, 175 Seiten; 18,00 Euro