April 19, 2024

Kolumne 11.04.2022 Nr. 712

712

BuchKolumne 11.04.2022 Nr. 712

Florian Scheibe – Der Biss
Thomas Ziebula – Engel des Todes
Tillmann Bendikowski – Hitlerwetter
Gudrun Krämer – Der Architekt des Islamismus
Dr. med. Sâra Aytaç – Ausgeblutet

   Florian Scheibe – Der Biss

Florian Scheibe-Der Biss

Sybil und David leben das gute, das richtige, das emissionsfreie Leben: Auf der Terrasse ihres Berliner Nullenergie-Mehrfamilienhauses halten sie sich ihr eigenes Bienenvolk, kaufen nur regional und biologisch, engagieren sich für den Fortbestand des Planeten. Doch das Idyll bekommt tiefe Risse, als ihr Sohn auf dem Spielplatz von einem fremden Jungen gebissen wird. Es ist der Sohn von Aurica und Petre, die aus Rumänien nach Deutschland gekommen sind in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft – und schnell feststellen müssen, dass nicht alle im gleichen Maße auf ein gutes Leben hoffen dürfen.

„Der Biss“ zeigt, dass man sich Klimaschutz auch muss leisten können, wenn es auf der einen Seite um die pure Existenzfrage geht. Das ist die Grundmessage, die „Der Biss“ vermittelt. Natürlich kann man das Klima auch im Kleinen schützen, doch wenn man erst mal wenig Geld für viel Arbeit verrichten muss, um Essen kaufen zu können und um ein Dach über den Kopf zu haben, ist das Weltklima nicht das erste, was einen beschäftigt. Und darin besteht natürlich auch das Problem, die reiche Schicht muss der Ärmeren helfen, das Klima zu schützen, und sich nicht mit den eigenen Wohlstandsproblemen herumschlagen. Denn gibt es keine gesunde Welt mehr, hilft den Reichen ihr vieles Geld auch nicht mehr. Das muss in den Köpfen dieser Gesellschaftsschicht ankommen. Doch „Der Biss“ zeigt noch so viel mehr. Er zeigt Beziehungen auf, die nicht besser sein müssen, nur weil die Partner finanziell abgesichert sind. Ganz im Gegenteil. Die Leben von Sybil und David und Aurica und Petre sind so unterschiedlich, und trotzdem ist nicht auszumachen, dass mehr Geld eine Beziehung glücklicher macht wie eine mit viel weniger Geld. „Der Biss“ ist ein ganz beeindruckender Roman, der mich durchgehend gefesselt hat!

btb, 446 Seiten; 22,00 Euro

  Thomas Ziebula – Engel des Todes

Thomas Ziebula -Engel des Todes
Leipzig, März 1920: Der Kapp-Putsch bricht aus. Frustrierte Reichswehrsoldaten haben die Regierung in Berlin für abgesetzt erklärt. In Leipzig, wie in vielen deutschen Städten, kommt es zu blutigen Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Putschisten. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände halten Kriminalinspektor Stainer in Atem – auch innerhalb der „Wächterburg“, da die völkisch-nationalen unter Stainers Kollegen die Weimarer Republik zur Hölle und die Putschisten an die Macht wünschen. Damit nicht genug, bemerkt Stainer unter den vielen Toten in den Straßen einzelne Opfer, die in auffälliger Manier erwürgt oder erstochen wurden. Jemand scheint die Gunst der Stunde zu nutzen, um seine Morde unter dem Deckmantel der Unruhen zu begehen. Hinweise lotsen Stainer und Junghans ins Theatermilieu – wo jemand seinen ganz eigenen Rachefeldzug führt.
 
Thomas Ziebula schreibt historische Kriminalromane erster Güte! Das traf auf die ersten beiden Fälle für Kriminalinspektor Paul Stainer „Der rote Judas“ und „Abels Auferstehung“ zu. Spannend, detailgetreu und mit einer prägenden Hauptfigur. Nach so viel Positivem war ich Neugier auf den dritten Fall für Paul Stainer. „Engel des Todes“, der Titel klingt für einen Kriminalroman sehr verheißungsvoll, konnte mich aber leider nicht überzeugen. An der Detailtreue fehlt es auch diesmal nicht, doch verpackt Thomas Ziebula das ansprechende historische Umfeld nicht in einen spannenden Kriminalroman. Der „Engel des Todes“ ist historisch und politisch durchaus interessant, aber als Kriminalroman ist er durchgefallen.
 

Wunderlich, 378 Seiten; 20,00 Euro

  Tillmann Bendikowski – Hitlerwetter

Tillmann Bendikowski-Hitlerwetter

Konnte es während Hitlers Herrschaft so etwas wie ein „normales“ Leben inmitten der Diktatur geben? Das Buch begibt sich auf eine erzählerische Zeitreise in die Mitte der NS-Herrschaft, indem er das Alltagsleben der Deutschen während einer Spanne von zwölf Monaten erkundet: zwischen Dezember 1938 und November 1939, als schon der Zweite Weltkrieg tobte und auch das missglückte Attentat im Münchener Bürgerbräukeller das Regime nicht mehr stürzen konnte. Ein ungewöhnlicher Blick auf das Leben der Deutschen im Alltag der Diktatur.

Der Feldzug für eine gesunde Lebensweise, der Kult um den Körper, der Ruf nach der Gemeinschaft – so manches, was den Alltag im „Dritten Reich“ prägte, erscheint uns heute erschreckend vertraut, wie Tillmann Bendikowski in diesem Buch zeigt. Denn es wirkt fast wie ein Abbild des heutigen Russlands. Erschreckend! Während der Feldzug gegen die Krim, die ausufernde Propaganda im Land und dann der Krieg gegen die Ukraine, die Russen lebten ihr Leben inmitten einer Quasi-Diktatur einfach weiter. Klar, jeder kehrt vor dem eigenen Haus und kümmert sich vorwiegend um das eigene Wohlergehen. Aus dieser heutigen Sicht bekommt Tillmann Bendikowskis „Hitlerwetter“ plötzlich ganz aktuelle Züge. Aber selbst, wenn man diesen Blickwinkel ausklammert, ist dieses Buch mehr als überraschend, auch wenn man schon viele Bücher über die Zeit in Deutschland vor Beginn des 2. Weltkrieges gelesen hat. Man erfährt Erstaunliches und auch Kurioses. Darunter fällt auch, dass Joseph Goebbels, dem begeisternden Kinogänger Adolf Hitler, zu Weihnachten eine Sammlung von 18 Mickymaus-Filmen geschenkt hat. Der Diktator beim Gucken von Mickymaus-Filmen, und praktisch Tage darauf ließ er Hunderttausende Juden in Konzentrationslager stecken. Ein Bild, das man nur schwer in Einklang bringen kann. Wie auch vieles andere, was man in diesem Buch erfährt. Die Hauptthemen sind: „Friede auf Erden“, „Begeisterung und Angst und Schrecken“, „Die Pflicht, gesund zu sein“, „Woran die Deutschen glauben“, „Hitler feiert 50. Geburtstag“, „Muttertag“, „Arbeit adelt“, „Das Versprechen einer guten Zeit“, „Verzweiflung im Exil“, „Wieder in den Krieg“, „Kluge Deutsche – dumme Deutsche“ und „Jeder Einzelne“.

C. Bertelsmann, 560 Seiten; 26,00 Euro

Gudrun Krämer – Der Architekt des Islamismus

Der Architekt des Islamismus - Gudrun Krämer

Die Muslimbrüder gehören seit ihrer Gründung im Jahr 1928 zu den einflussreichsten islamischen Bewegungen der Gegenwart, auf die sich islamische Aktivisten von der palästinensischen Hamas bis zur türkischen AKP beziehen. Das Buch zeigt, wie Hasan al-Banna aus einem sufisch inspirierten Bildungs- und Wohltätigkeitsverein eine Massenorganisation mit Hunderttausenden von Anhängern schuf, die unter Berufung auf die Religion Politik machte. Neben einem eigenen Zweig der Muslimschwestern entstand im Schatten des Zweiten Weltkriegs auch ein Geheimapparat. Ende 1948 wurde die Muslimbruderschaft verboten, wenig später fiel al-Banna einem Attentat zum Opfer. Noch heute dient er nicht-jihadistischen Islamisten als Referenz.

Der Gründer der Muslimbruderschaft Hasan al-Banna (1906 – 1949) zählt zu den bedeutendsten Vordenkern und Aktivisten des Islamismus. Gudrun Krämer hat mit „Der Architket des Islamismus – Hasan Al- Banna und die Muslimbrüder“ eine beeindruckende Biographie verfasst! Jeder der schon mal etwas über die „Muslimbrüder“ in den Nachrichten gehört hat, aber praktisch gar nichts über die Muslimbruderschaft weiß, kann mit diesem sehr gut recherchiertem Buch einen vielfältigen Einblick bekommen. Gudrun Krämer erklärt das soziale Umfeld und den politischen Kontext der Bewegung, porträtiert Mitstreiter und Gegner und erschließt anhand der Biographie Hasan al-Bannas ein Schlüsselkapitel in der Geschichte des modernen Islam. Die Hauptthemen sind: „Bildung und Frömmigkeit im ländlichen Raum“, „Die Zeit der Orientierung“, „Baupläne: Die Muslimbrüder in Ismailiyya“, „Grundmauern: Die Muslimbrüder in Kairo“, „Ausbau: Sport, Scouts und Studenten“, „Design: Der Islam der Muslimbrüder“, „Umbauten: Die Phase der Gestaltung“, „Ein Haus mit vielen Wohnungen“ und „Einsturzgefahr: Das Ende einer Epoche“.

C. H. Beck, 528 Seiten; 34,00 Euro

  Dr. med. Sâra Aytaç – Ausgeblutet

Dr. med. Sâra Aytaç - Ausgeblutet

Dr. Sâra Aytaç, Oberärztin in der Unfallchirurgie, liefert einen schonungslosen Bericht aus ihrem Klinikalltag: Sie berichtet von den vergessenen Alten, deren adäquate Behandlung keinen Profit verspricht. Sie erzählt von lebensgefährlichen Kommunikationsproblemen im Schmelztiegel Krankenhaus, ebenso fatalen Personalengpässen, unqualifizierten Aushilfskräften und dem Ausverkauf des ärztlichen Ethos. Wir brauchen endlich wieder ein menschliches, das heißt allein am Patientenwohl orientiertes Gesundheitssystem.

Ein schockierendes Buch, das aufrütteln MUSS! Unser Gesundheitssystem gleicht in Zügen der Titanic, kurz bevor sie den Eisberg rammte. Dr. Sâra Aytaç nimmt kein Blatt vor den Mund. Richtig so! Die Hauptthemen dieser „Ausblutung“ sind: „3 Uhr nachts: Die Welt und mein Patient schlafen“, „24/7: Immer zu Diensten“, „Langeweile gepaart mit Katastrophen: Der ganz alltägliche Horror der Notfallmedizin“, „Notaufnahme, das Absurditäten Kabinett: Von Notfall-Shoppern und Helmut Dreikommaacht“, „Nervige Gerontosaurier: Der missachtete betagte Patient“, „Quo vadis, und vor allem mit wem? Von Perlhühnern, Dandys und keinem Nachwuchs“, „Laienschauspieler gesucht: Dein Arzt, dein Schicksal“, „Kann kommen, immer, alles: Vom Schockraum und anderen Theatern“, „Hippokrates’ langes Sterben: Der Ausverkauf des ärztlichen Ethos“, „Via falsa: Erweiterter Suizid und nichts wie weg!“ und „Ruhe vor dem Sturm: Große und kleine Krankenhäuser am Rande des Wahnsinns.“

Lübbe, 239 Seiten; 16,99 Euro