Kolumne vom 10.08.2015 – Nr. 364
Harper Lee
Gehe hin, stelle einen Wächter
Jean Louise Finch, bekannt aus “Wer die Nachtigall stört”, ist erwachsen geworden. Mit 26 kehrt sie zurück in ihre Heimatstadt in Alabama. Dort wirken sich die Rassenunruhen im Süden aber auch auf das Leben im ruhigen Maycomb aus. Jean Louise wird plötzlich mit ungeahnten Seiten an den Menschen konfrontiert, die ihr am nächsten stehen – alle voran ihr geliebter Vater Atticus. Während Jean Louises Weltbild auf den Kopf gestellt wird, muss sie lernen, sich von den Illusionen der Vergangenheit zu verabschieden. Ein schwieriger Prozess, bei dem sie nur dem eigenen Gewissen folgen kann.
Dieses Buch wird als Sensation gefeiert. Harper Lees 1960 veröffentlichtes Debüt “Wer die Nachtigall stört” wurde zum Weltbestseller und daraus mit Gregory Peck in der Hauptrolle auch ein Filmklassiker. Und nun erscheint das im September 2014 entdeckte Manuskript von “Gehe hin, stelle einen Wächter” weltweit zeitgleich. Somit schon ein literarischer Bestseller, bevor er überhaupt erschienen ist. Eine dramatische und aufwühlende Geschichte, die über sechzig Jahre alt ist, und trotzdem so viel Neues enthält. Ein Zeitdokument und ein Vater-Tochter-Roman. Ohne zu viel zu verraten wird man die Figuren in einem neuen Licht sehen, die eine später, als eigentlich zuvor, bei “Wer die Nachtigal stört” ans Herz gewachsen sind. Das Leben verändert, die Autorin hat das mit ihren Figuren auch getan. Man darf aber nie vergessen, dass dieser Roman vor “Wer die Nachtigal stört” geschrieben wurde. Von dieser Verwirrung muss man sich lösen. Ein Weltbestseller, eine literarische Sensation, ein unvergängliches Werk.
Auch als Hörbuch erhältlich bei der Hörverlag. Die fantastische deutsche Schauspielerin Nina Hoss gibt sich die Ehre. Sie liest nuanciert und kraftvoll. 19,99 Euro.
DVA, 318 Seiten; 19,99 Euro
Marie Calloway
Es hat echt überhaupt nichts mit dir zu tun
Marie Calloway ist Anfang zwanzig und lebt in New York. Sie ist Teil der jungen literarischen Szene Brooklyns, veröffentlicht in Onlinemagazinen und führt einen Blog. Der Name “Marie Calloway” ist ein Pseudonym, unter dem sie über alles schreibt, was ihr im Zusammenhang mit Sexualität widerfährt. In ihren Texten geht es u. a. um ihre Entjungferung oder ihre Affäre mit einem verheirateten Mann, und mindestens ebenso sehr wie ihren Körper legt sie ihre Seele bloß. Sie selbst verschont sich dabei nicht …
Ein Buch, das man entweder liebt und total schrecklich findet. Obwohl lieben in Verbindung mit dem Buch auch falsch ist. Denn das Buch quillt über vor Sex. Oben, unten, vorne, hinten, überall. Die Autorin lässt nichts aus. Sexuell bekommt man viel geboten, eine gescheite Story bekommt man dabei nicht. Es ist eine Aneinaderreihung von unterschiedlichen Sexerlebnissen- und praktiken. Wie, als die Autorin 18 Jahre alt war, alles begann; dann Prostitutionserlebnisse; Cybersex; BDSM; mit ganz speziellen Typen; und noch einiges mehr.
Ullstein, 287 Seiten; 19,99 Euro
Catherine Mayer
Charles – Mit dem Herzen eines Königs
Prinz Charles, geboren, um einmal den Thron zu besteigen, hat sich nicht auf seine ewige Prinzenrolle festlegen lassen. Er ist alles andere als ein König in Warteschleife und hat bereits heute den Grundstein für eine neue Interpretation der britischen Monarchie gelegt. Dieses Buch zeigt Prinz Charles in einem völlig neuen Licht: als eine komplexe Persönlichkeit mit vielen Passionen, getrieben von seiner Vergangenheit und einer ganz klaren Philosophie, aktiv zu agieren. Entstanden auf der Basis zahlreicher Interviews mit dem engsten Kreis der Freunde, Wegbegleiter, Mitarbeiter und auch mit ihm selbst.
Der besonnene Prinz Charles und wie er wirklich ist. Eine Biographie, die wunderbar die vielseitige und eindrucksvolle Persönlichkeit von Prinz Charles einfängt. Er macht so viel, von dem man als nicht Windsor-Kenner kaum eine Ahnung hat. Er ist ein Prinz für das Volk, der nahe bei den britischen Bürgern ist, diese unterstützt und motiviert, und der natürlich den Draht zu den ganz Mächtigen in der Welt hat. Und er macht das nach seinen Überzeugungen, ganz weg vom politisch zeitlich begrenzten Denken. Dieses Buch klärt auf, was Charles alles zu verantworten hat, was ihm lieb und teuer ist, wie er denkt, was er für Vorlieben hat, wie es mit der Familie bestellt ist, wie er zu dem wurde, was er heute ist, und noch so viel mehr. Das royale Leben hautnah erleben. Was passiert im Könighaus und außerhalb? Ein Buch, das verblüffende Einblicke in eine geschlossene Gesellschaft gibt.
Heyne, 480 Seiten; 19,99 Euro
Kristine Bilkau
Die Glücklichen
Cellistin Isabell und Journalist Georg sind ein glückliches Paar. Mit der Geburt ihres Sohnes wächst nicht nur ihr Glück, sondern auch der Druck und die Verunsicherung. Die Arbeit wird nicht einfacher, dann werden beiden arbeitslos. Und auch eine Mieterhöhung kommt noch. Für die jungen Eltern beginnt damit ein leiser sozialer Abstieg.
Literatur aus dem Leben, dem Eheleben, dem ganz normalen Alltag – auf hohem Niveau. Ein Paar, das glücklich scheint mit sich und der Welt, aber plötzlich, mit einem Ereignis nach dem anderen, bekommt das Glück Bruchstellen und die werden immer größer. “Die Glücklichen” ist keine Geschichte die einen glücklich macht, aber eine die einem zeigt, wie sich ein glückliches Leben ganz langsam zu einem dunklen Strudel entwickeln kann. Vor allem wenn ein Paar dann nicht zusammenhält, weil, in diesem Fall die Frau, ihr Leben nicht den neuen Umständen anpassen will. Ein Roman mit Nachhall!
Luchterhand, 302 Seiten; 19,99 Euro
Kamila Shamsie
Die Straße der Geschichtenerzähler
Juli 1914. Die junge Engländerin Vivian Rose Spencer darf an Ausgrabungen in der Türkei teilnehmen. Dabei begegnet sie Tahsin Bey. Eine Begegnung mit Folgen. Juli 1915. Der Krieg hat alles verändert. Vivian folgt einer Spur ihres Geliebten, als sie im Zug nach Peschawar den jungen Paschtunen Qayyum Gul trifft. Beide ahnen nicht, dass ihre Geschicke sich auf immer verbinden …
Die in Pakistan geborene Autorin hat mit “Die Straße der Geschichtenerzähler” einen ganz magischen, dramatischen und spannenden Roman geschrieben. Ein sehr hochwertiger historischer Roman, der die schlimme Zeit des 1. Weltkrieges genauso beachtlich einfängt, wie die Zeit und mit ihr die Fesseln zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Großbritannien und Indien. Die Hauptfiguren lassen einen schon nach kurzem nicht mehr los.
Berlin Verlag, 382 Seiten; 19,99 Euro
Hörbuch der Woche
Jenny Blackhurst
Die stille Kammer
Mein Name ist Emma Cartwright. Noch vor drei Jahren war ich Susan Webster – jene Susan Webster, die ihren zwölf Wochen alten Sohn Dylan getötet hat. Fast drei Jahre verbrachte ich in der Forensischen Psychiatrie. Seit vier Wochen bin ich wieder draußen. Unter neuem Namen lebe ich nun in einer Stadt, in der niemand von meiner dunklen Vergangenheit weiß. Doch heute Morgen erhielt ich einen Brief, adressiert an Susan Webster. In dem Umschlag befand sich das Foto eines etwa dreijährigen Jungen, auf der Rückseite standen die Worte: Dylan – Januar 2013. Kann es sein, dass mein geliebter Sohn noch lebt?
Das Debüt der Engländerin Jenny Blackhurst “Die stille Kammer” ist ein Thriller, der nicht auf das Gaspedal tritt, aber dafür mit viel subtiler Spannung zu überzeugen weiß. Man fiebert mit Susan mit, und denkt sich aber auch manchmal, was macht sie da nur? Da hat die Autorin dann, bei Figuren und Handlung, immer wieder mal zu viel konstruiert. Aber trotzdem ist man bei “Die stille Kammer” nie gelangweilt. Tanja Geke hat ihn raus, den Thrill-Effekt! Sie hat ja schon eine Reihe von Thrillern höchst spannend eingelesen. Das macht sie nun auch mit “Die stille Kammer”.
Auch als Taschenbuch erhältlich bei Bastei Lübbe, 9,99 Euro.
Lübbe Audio, 6 CDs, 456 Minuten; 16,99 Euro
Denglers-buchkritik.de