Er frisst, statt zu essen, er säuft, statt zu trinken, er quarzt, statt zu rauchen, und er ackert, statt zu arbeiten. Pinscher wiegt hundertdreißig Kilo bei einer Körpergröße von einssiebzig, wobei das um fünf Zentimeter geschummelt ist. Sein Aussehen gibt nur zum Teil seine Maßlosigkeit preis. Und doch, seine Kleidung ist ordentlich, ein wenig aus der Mode, er ist nie ganz von hier weggekommen. Hier, das ist Mündendorf, hartes Arbeitermilieu. Jetzt, das ist der Sommer seiner Zwangsversetzung zurück in die Polizeiwache, die er nicht erträgt. Und es ist der Abschied von seiner geliebten Mutter. Er muss nun etwas tun, was er all die Jahre vermieden hat: sich der Erinnerung stellen, vor der polierten Schrankwand im engen Reihenhaus sitzen, den kalten Zigarettenrauch im alten Wohnzimmer riechen und den Menschen auf den alten Fotos wirklich ins Gesicht sehen.
Martin Becker konnte mich vor einigen Jahren mit „Marschmusik“ überzeugen. Daher war ich nun sehr gespannt auf die „Kleinstadtfarben“. Und er hat mich nicht enttäuscht, denn der Roman liefert genau das, was ich mir versprochen habe: Pure Tristesse in schönem Wortgewand! Die „Kleinstadtfarben“ sind so finster und deprimierend, dass sie gar eine Depression verursachen können. Wie kann der Roman dann gut sein? Martin Becker bildet in seinem Roman das wahre Leben ab, und färbt so gar nichts schön. Genau das macht diesen Roman so gut! Entweder Sie fühlen sich nach der Lektüre super, weil Sie nicht so ein Leben führen wie Pinscher, oder Sie sehen sich selbst in Pinschers Leben wieder und denken, auch anderen geht es nicht besser als mir. Die Lektüre dieses Buches ist also immer ein Gewinn!
Luchterhand, 284 Seiten; 20,00 Euro