BuchKolumne 08.04.2024 Nr. 816
Ulf Kvensler – Der Ausflug
Ava Glass – Codename Emma – Du kannst niemanden trauen
Martin Becker – Die Arbeiter
Tanja Huthmacher – Zeit der Schwestern – Apfelblütentage
Nicola Kuhn – Der chinesische Paravent
Hörbuch der Woche –
Trude Teige – Und Großvater atmete mit den Wellen
Ulf Kvensler – Der Ausflug
Jeden Sommer fahren die Anwältin Anna, ihr Verlobter Henrik und ihre beste Freundin Melina in den Norden Schwedens, um beim Wandern in der wilden Natur den Stockholmer Alltag zu vergessen. Doch dieses Jahr hat sich Melinas neuer Freund, Jakob, der Gruppe angeschlossen. Er schlägt vor, von der ursprünglichen Route abzuweichen und stattdessen in den wilden, einsamen Nationalpark Sarek zu wandern. Schon bald wird klar, dass die Tour alles andere wird als ein gemütlicher Ausflug unter Freunden. Jakob stiftet die Gruppe zu immer weiteren, gefährlicheren Herausforderungen an. Auch die Dynamik zwischen ihnen ändert sich – lang unterdrückte Vorwürfe und Geheimnisse kommen ans Licht, die Nerven liegen blank. Bald geht es nur noch um eines: Wer wird nach Hause zurückkehren?
Der Schwede Ulf Kvensler versteht sich auf gute Geschichten! Seine Karriere ist geprägt davon, als Drehbuchautor, Regisseur und Showrunner. Mit diesem geballten Wissen und Können startet er nun seine Autorenkarriere. Sein Debüt-Thriller „Der Ausflug“ war in Schweden gleich ein Nr.-1-Bestseller. Gerechtfertigt? Und wie! Ulf Kvensler seziert die Gefühle und Emotionen der einzelnen Figuren, die der als Gruppe. Wie verhalten sich Menschen in Liebesbeziehungen und freundschaftlichen Beziehungen? Und wie, wenn die Gewalten der Natur noch dazukommen? Von Seite zu Seite wird die Stimmung explosiver. Ulf Kvensler hält die Spannung hoch. Legt kleine Spuren, immer wieder. Lässt die LeserInnen zappeln. Auch der Aufbau der Geschichte zeigt die hohe Qualität des Autors. Er erzählt die Geschichte auf drei Zeitebenen, und die bringt er hervorragend in die Story ein. Ein nervenaufreibendes, psychologisch ausgefeiltes Survival-Kammerspiel der Extraklasse!
Penguin, 461 Seiten; 17,00 Euro
Ava Glass – Codename Emma – Du kannst niemanden trauen
In London wird ein MI6-Agent ermordet in seiner Wohnung aufgefunden: getötet mit Nervengift. Er hatte gegen zwei russische Oligarchen ermittelt, die verdächtigt werden, mit chemischen Waffen zu handeln. Emma Makepeace, Agentin der geheimen Regierungsorganisation Agency, erkennt sofort, dass der Mörder ein Profi war – und dass es einen Maulwurf in der britischen Regierung geben muss. Um die Wahrheit herauszufinden, wird Emma undercover auf die Superjacht eines der Oligarchen eingeschleust. Die Operation führt sie von Luxusvillen an der Côte d’Azur zu den mondänen Hotels von Barcelona. Kurz bevor sie herausfindet, was die Russen planen, wird Emma enttarnt und gerät in tödliche Gefahr. Jetzt kann sie niemandem mehr trauen, auch nicht ihrem engsten Umfeld.
„Codeame Emma“ ist echte Frauen-Power-Action! So dachte ich. Doch schon der erste Band „Jede Spur wird dich verraten“ war eher durchwachsen. Story und Erzählweise kam eher einem B-Movie gleich. Aber man sollte eine zweite Chance nicht verwehren, und so habe ich mich nun auch „Du kannst niemanden trauen“ angenommen, der zweite Band von „Codename Emma“. Und es ist leider nicht viel besser geworden. Ava Glass bleibt sich treu – und macht die gleichen Fehler wie im ersten Band. Auch wenn die Story – leider – sehr aktuell ist, will große Spannung selten aufkommen, es gibt reichlich stupide Action und auch die Figuren haben mich nicht begeistern können.
Goldmann, 430 Seiten; 12,00 Euro
Martin Becker – Die Arbeiter
Manchmal lassen die Eltern die heißen Fabrikhallen hinter sich und fahren los. Mit den Kindern ans Meer, immer an die Nordsee und immer nur für ein paar Tage. Der Rest ist Plackerei: Für das Reihenhaus, für die Kinder, für ein bisschen Glück – wenigstens im Rahmen des Sparkassendarlehens. Die Geschichte erzählt von einer kleinstädtischen Familie, die es nicht mehr gibt. Von zu früh gestorbenen Eltern und Geschwistern, von einem unverhofften Wiedersehen an der Küste, vom kleinen Wunder, nach dem Verschwinden der Ursprungsfamilie nun selbst Vater zu sein und einen Sohn zu haben. Die altmodischen Nähmaschinen der Mutter, der schwere Schmiedehammer des Vaters, die billig eingerichteten Ferienwohnungen und stets zu gequalmten Kleinwagen aus dritter, vierter, fünfter Hand: es ist die Geschichte über eine Herkunft aus einfachen Verhältnissen.
Ein trauriger und zugleich versöhnlicher Roman über die Arbeiterfamilien in unserem Land, durchzogen von einem deftigen Stück Melancholie! Wie Martin Becker es beschreibt: „Unsere Familie aus sogenannten kleinen Verhältnissen, die Malocher, die Arbeiter, die Outsider, die Kinderreichen, die Komischen, die Zugezogenen, die mit der Behinderten, die mit der kranken Mutter, die mit dem maulfaulen Vater, sie ist fort. Ausgeträumt.“ Das ist der Weg des Lebens. Er wiederholt sich. Immer wieder aufs Neue. Am Ende steht der Tod. Dazwischen, das ist Leben, aus dem wir das Beste machen sollen. Wenn möglich. Ein Buch, das mich durchgerüttelt hat! So viele mit Scheinwerfern beleuchtete Szenen des eigenen Lebens stellt Martin Becker ins helle Licht, ins Lebenslicht, ins Licht des alltäglichen Lebens. „Die Arbeiter“ wird bei mir noch lange nachhallen!
Luchterhand, 302 Seiten; 22,00 Euro
Es ist Frühling am Bodensee, und ein großes Fest unter blühenden Apfelbäumen steht bevor: Anlässlich des 70. Geburtstags ihrer Mutter Lotte haben sich auch ihre Töchter Carolin, Romy und Veronika unter den Gästen eingefunden. Für die Naturfotografin Carolin, die nach dem Biologiestudium nach Neuseeland ausgewandert ist, liegt der letzte Besuch Jahre zurück. Nun freut sie sich auf ihre Schwestern und sieht erwartungsvoll zwei Wochen Heimatfeeling entgegen. Doch dann wirbelt eine überraschende Entdeckung das Familienleben durcheinander. Und als eine unerwartete Begegnung ihr bisheriges Leben infrage stellt, trifft Carolin eine folgenreiche Entscheidung.
Tanja Huthmacher ist eine erfahrene Autorin, und das merkt man auch an ihrer neuen Trilogie. „Zeit der Schwestern“ verzaubert, versprüht Funken des Glücks und der Hoffnung und ist mit Figuren besetzt, deren Lebenswege man sehr gerne mitgehen möchte! Das trifft auf den ersten Band „Apfelblütentage“ zu. Und, wenn ich die Qualität des ersten Band nehme, sicher auch auf die, die noch kommen. Es folgen in diesem Jahr noch „Kirschsommer“ und „Traubenfest.“
Lübbe, 349 Seiten; 13,00 Euro
Nicola Kuhn – Der chinesische Paravent
Paravent, Teeservice, Speere, Schild und Papagei: Nicola Kuhn stellt Artefakte vor, die viel über die Kolonialzeit erzählen. Von Missionaren, Militärs, Siedlern oder Händlern als Trophäen und Erinnerungsstücke mitgebracht, verbirgt sich hinter jedem Objekt immer auch die Tragödie eines besetzen Landes und seiner Menschen. Die Fundstücke bezeugen die extreme Gewalt wie das vermeintlich friedliche Miteinander, radikale Ausbeutung, doch auch Versuche von Annäherung. Zu Wort kommen auch die heutigen Besitzer, die einen Umgang mit diesem Erbe finden müssen.
Deutschland und seine Kolonialgeschichte, eine lange Geschichte mit wenig freudigen Ereignissen, sondern meist geprägt von Ausbeutung und Gewalt. Nicola Kuhn gibt mit „Der chinesische Paravent – Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam“ einen ganz besonderen Einblick in unser deutsches Erbe. Eines, das uns näher ist, als viele vielleicht denken. Es ist deutsche Kolonialgeschichte in elf Fundstücken, koloniales Erbe als Familiengeschichte. Eine fesselnde Geschichte, die einen viel über unser koloniales Erbe verrät, was man davor so garantiert, noch nicht gewusst hat! Die Hauptkapitel sind: „Der chinesische Paravent“, „Das Silbergeschirr aus Kiautschou“, „Die Federzeichnung -Ausfahrendes Kanu I-“, „Die Trommel aus Papua-Neuguinea“, „Der Kriegerschild“, „Der Papagei Polly“, „Der Schädel einer Hyäne“, „Der -Buschmannrevolver-“, „Das Foto eines gestürmten Dorfes“, „Die -Lettow-Mappe-“ und „Der Nupe-Hocker“.
dtv, 365 Seiten; 25,00 Euro