Kolumne vom 27.05.2019 – Nr.562
Jessica Bruder
Nomaden der Arbeit
Zehntausende Menschen in Amerika sind unterwegs. Sie leben in Wohnmobilen, Vans, Anhängern. Übernachten auf Supermarkt-Parkplätzen, neben den Highways, in der Wüste. Sie schaufeln Zuckerrüben in North Dakota, reinigen Toiletten in den Nationalparks von Kalifornien, arbeiten Zwölf-Stunden-Schichten im Amazon-Versandzentrum im winterlichen Texas. Und sie haben eines gemeinsam: Sie sind alt. Der American Dream hat für sie Bingo-Spielen und Gartenpflege vorgesehen. Doch im 21. Jahrhundert, erschüttert von der Finanzkrise der Zehnerjahre, ist der Boden für den sprichwörtlich wohlverdienten Ruhestand weggebrochen. Deshalb ziehen sie als Nomaden der Arbeit von einem saisonalen Tageslohnjob zum nächsten.
Die Journalistin Jessica Bruder wollte nur einen Artikel schreiben über die „Nomaden der Arbeit“, doch es gab viel, viel mehr Geschichten zu erzählen, als sie gedacht hatte. Drei Jahre begleitete sie diese Menschen. „Nomaden der Arbeit“ zeigt eines der großen sozialpolitischen Probleme der USA, das keinen Präsidenten so richtig zu interessieren scheint. Die großen Probleme der „kleinen“ Leute. Die unterschiedlichen Geschichten der Menschen, die sich doch oftmals gleichen, die Jessica Bruder in diesem Buch gesammelt hat, sind mit einer gewissen Traurigkeit behaftet, aber sie sind spannend erzählt. Amerikas Wanderarbeiter hatten meist eine gesicherte Existenz und eine anstehende Rente, bis nach und nach, vor allem durch den Börsencrash 2008, der soziale Abstieg begann. Kein festes, Zuhause, kein fester Job, harte Arbeit, immer unterwegs. Und sehr oft sind es ältere Menschen, die von der wenigen Sozialhilfe nicht leben können, die ihnen der Staat zahlt. Authentisch und erschütternd – der Abgesang auf den American Dream!
Blessing, 383 Seiten; 22,00 Euro
Laura Karasek
Ja, die sind echt
Wie du’s machst, machst du’s falsch. Zumindest als Frau in einer Männerwelt. Zwischen Whisky und Lippenstift, Helikoptermami und Rabenmutti, zwischen Opernball und Arschgeweih. Bergsteigen in Pumps ist nicht einfach. Die Autorin ist dennoch losgelaufen und beantwortet Fragen: Wie sexy ist noch seriös? Wann bemerkt eigentlich mein Chef, dass ich eine Mogelpackung bin? Muss ich mein Kind beim Algebra-Wettbewerb anmelden? Darf ich laszive Selfies verschicken? Wohin fliehe ich bei einem miesen Date? Fragen, die noch keine Generation Frauen zuvor beantworten musste.
Laura Karasek hat Jura studiert und als Rechtsanwältin gearbeitet, sie hat einen berühmten Vater, Kritiker-Legende Helmuth Karasek, sie sieht sehr gut aus und konnte mir ihrem Debütroman „Verspielte Jahre“ einen Bestseller landen. Eine beeindruckende Frau! Nun ist ihr Buch „Ja, die sind echt“ erschienen, in dem ihre Kolumnen zusammengefasst sind. Laura Karasek hat noch etwas, sie hat Humor. Aber der blinzt nur hin und wieder richtig durch, oft wirken ihre Texte eher selbstverliebt mit dem Hang zur Langeweile. Es muss aber auch herausgestellt werden, dass richtig gute Texte dabei sind, aber als Ganzes überzeugt „Ja, die sind echt“ nicht.
Eichborn, 253 Seiten; 12,00 Euro
Michio Kaku
Abschied von der Erde
Es wird Zeit, sagt Michio Kaku, die nächste Zivilisationsstufe zu erklimmen und den Aufbruch ins Weltall voranzubringen: Weltraum-Archen zu planen und zu bauen. In diesem Buch erklärt der weltberühmte Physiker, wie und wann das gehen könnte: natürlich unter Einhaltung der herrschenden physikalischen Gesetze. Die ersten Schritte führen zum Mars. Um das Jahr 2030 will die NASA eine bemannte Mission zum Roten Planeten schicken, in den nächsten Jahren schon mit der Erkundung des Asteroidengürtels zwischen Mars und Jupiter anfangen. Diese Himmelskörper geologisch auszubeuten, könnte die nächsten Schritte finanzieren: Terraforming mit technischen Mitteln wie Quantencomputer, superharte „Nano-Werkstoffe“ und sich selbst reproduzierenden Schürf- und Arbeitsroboter. Bereits um das Jahr 2050, schätzt Kaku, könnten Mittel und Technik ausreichen, um schon einmal einen ständigen Außenposten auf dem Mars zu errichten.
Die Erde, so wie wir sie kennen, wird vernichtet werden. Ob das passiert, ist nicht die Frage, sondern nur wann. Der berühmte Physiker Michio Kakuk, in den USA ein großer Medienstar, zeigt in „Abschied von der Erde“ wie unsere Spezies überleben kann, bevor es zu spät ist. Er beginnt seine Reise mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, wo der Grundstein gelegt wurde, eine erste Rakete wurde von einem einsamen Visionär gebaut. Raketen wurden weiter entwickelt bis zum Apollo-Programm und der ersten Mondlandung. Das alles war aber nur der Anfang, von etwas viel Größerem. Michio Kaku erzählt lebendig, erklärend und verständlich. Mit ihm kann man das Abenteuer wagen, sich auf eine Reise in die Zukunft zu begeben, um zu erfahren, was alles Unmögliche irgendwann möglich sein wird. „Abschied von der Erde“ ist ein super spannendes und super lehrreiches Buch!
Rowohlt, 478 Seiten; 25,00 Euro
Theo Waigel
Ehrlichkeit ist eine Währung
Als Politiker kämpfte Theo Waigel entschlossen, aber stets fair. Der Grundsatz, Freund und Feind gegenüber ehrlich zu sein, durchzieht wie ein roter Faden sein Leben. Bis in die Kindheit reicht dieser Anspruch zurück – „heuchlerisch“ nennt Waigel heute das Klima der Fünfzigerjahre, in dem die NS-Verbrechen verschwiegen und verdrängt wurden. Er erinnert sich an Weggefährten wie Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Franz Josef Strauß, erzählt von 1989/90 und den entscheidenden Gesprächen mit Gorbatschow, Mitterrand und Bush, die zur deutschen Einheit führten.
Aus meiner Jugendzeit blieb mir neben Helmut Kohl ein Politiker besonders im Gedächtnis: Theo Waigel. Daher war ich sehr gespannt auf seine Autobiographie und was er alles über sich, die Politik und das Erlebte in historisch so entscheidenden Zeiten zu erzählen hat. Und er hat mich nicht enttäuscht. Theo Waigel erzählt in seiner Autobiographie spannende Politik- und Lebensgeschichten, die mir lange in Erinnerung bleiben werden! Die Hauptthemen sind: „Bayern“, „Deutschland“, „Europa und die Welt“ und „Unvergessliche Begegnungen.“
Econ, 344 Seiten; 24,00 Euro
Juan S. Guse
Miami Punk
Der Atlantik hat sich über Nacht von der Küste Floridas zurückgezogen und eine Wüste hinterlassen. Kreuzfahrtschiffe rosten im Sand vor Miami, die Hotels bleiben leer, der Hafenbetrieb ist eingestellt und selbst die Dauerwerbesendungsindustrie liegt am Boden. Mittendrin eine überambitionierte Indie-Game-Programmiererin, eine strauchelnde Arbeiterfamilie, eine junge Soziologin und ein E-Sport-Team aus Wuppertal.
Ein bunter, herber und skurriler Gesellschaftsroman, der wie ein Tornado über einem hinwegfegt! Juan S. Guse hat sich mit „Miami Punk“ literarisch etwas getraut und rockt nun Seite für Seite. Ein Roman über unsere Gegenwart, unsere Zukunft, über die Arbeit, das Leben miteinander und zugleich ein Abschied auf das Leben, das wir bisher kannten.
S. Fischer, 637 Seiten; 26,00 Euro
Hörbuch der Woche
Romy Hausmann
Liebes Kind
Eine fensterlose Hütte im Wald. Lenas Leben und das ihrer zwei Kinder folgt strengen Regeln: Mahlzeiten, Toilettengänge, Lernzeiten werden minutiös eingehalten. Sauerstoff bekommen sie über einen „Zirkulationsapparat“. Der Vater versorgt seine Familie mit Lebensmitteln, er beschützt sie vor den Gefahren der Welt da draußen, er kümmert sich darum, dass seine Kinder immer eine Mutter haben. Doch eines Tages gelingt ihnen die Flucht – und der Albtraum geht in die Verlängerung.
„Dieser Thriller beginnt, wo andere enden“. So wird das Buch beworben, und genau so ist es. Das psychologische Aufarbeiten des Erlebten, bei praktisch allen Figuren, das ist das zentrale Thema von „Liebes Kind“. Romy Hausmann beweist dabei nicht nur viel Einfühlungsvermögen für ihr entworfenes Personal, sondern weiß auch die Thrillerstellschrauben richtig anzuziehen. Die Geschichte überrascht immer wieder aufs Neue. Einer der besten Psychothriller des Jahres! Und das von einer deutschen Autorin, die dazu mit „Liebes Kind“ auch noch ihr Debüt abliefert. Herausragend! Ein Psychothriller, der einen durchrüttelt, denn das Kopfkino läuft in Dauerschleife ab. Und auch das Hörbuch hat es in sich. „Liebes Kind“ gehört zu den besten Psychothriller-Hörbuchproduktionen des Jahres! Das liegt nicht nur am Stoff, sondern vor allem auch an dem hervorragenden Sprecherensemble. Die 25-jährige Leonie Landa fällt dabei besonders auf. Denn sie spricht die 13-jährige Hanna wie eben eine 13-jährige mit diesen Erlebnissen spricht. Das verursacht Gänsehaut pur, sobald man ihre Stimme hört. Aber auch Heikko Deutschmann und Ulrike C. Tscharre gehen in ihren Rollen voll auf. Das „Liebes Kind“-Hörbuch ist großes Schauspiel und keine gewöhnliche Lesung! Hörprobe 7:07 Min.
Auch als Paperback erhältlich bei dtv, 15,90 Euro.
Hörbuch Hamburg, 2 MP3 CDs, 648 Minuten; 20,00 Euro
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