Kolumne vom 16.07.2018 – Nr.517
Michel Onfray
Niedergang
In seinem Werk erzählt der französische Philosoph Michel Onfray die 2000 Jahre alte Geschichte der jüdisch-christlichen Kultur, und er prophezeit ihren unaufhaltsamen Untergang. Onfray schildert ihren Aufstieg und ihre Blüte, dann die allmähliche Infragestellung des christlichen Weltbildes seit Renaissance und Aufklärung und schließlich den Verfall in unseren Tagen, der einhergehe mit Nihilismus und Fanatismus, wie wir sie in unseren Gesellschaften erlebten. Den Angriffen mörderischer Ideologien wie der des radikalen Islamismus setze die liberale westliche Welt nichts entgegen. Und obgleich bekennender Atheist, erkennt Onfray die große Leistung der bedrohten jüdisch-christlichen Kultur: den Respekt für das menschliche Individuum.
Ein Buch, das vor klugen Sätzen nur so strotzt! Genauso regt es aber auch zum diskutieren an, da Onfrays Thesen streitbar sind. Auch wenn man mit manchem (einige werden auch sagen, mit vielem) nicht übereinstimmt, so ist da Buch doch eine durch und durch lebendige Erzählung. Einschlafen wird man bei diesen vielen Ansätzen, die der Franzose Onfray einem mitgibt, garantiert nicht. Vielleicht ist man manchmal gar versucht, das Buch in die Ecke zu werfen, aber man möchte dann doch wissen, was Onfray einem noch alles zu sagen hat. Die Lektüre von „Niedergang“ war für mich wie ein schöner Sonnenaufgang, aber gepaart mit einem heftigen Gewitter, vielen Blitzen und mächtigen Donnergrollen! Ein paar kluge Auszüge aus dem Buch zum Abschluss: „Das Wort ist das Fleisch der Geschichte“; „Kulturen werden geboren, sind da, werden größer, wachsen heran, entwickeln sich weiter, strahlen aus, werden müde, erschlaffen, altern, siechen, sterben und verschwinden“; „Seiner Zeit weit voraus, entstand das Trio Jesus, Maria und Josef durch Möglichkeiten, wie sie die Moderne liebt: durch eine Zeugung ohne Geschlechtsverkehr, einen Vater, den es nicht gab, und eine jungfräuliche Mutter, die nach der Geburt Jungfrau blieb … obwohl diese dem gesunden Menschenverstand zuwiderläuft, gründet sich darauf der abendländische jüdisch-christliche Verstand“.
Knaus, 704 Seiten; 28,00 Euro
David Mealing
Die Seele der Welt
Es ist das Zeitalter der Revolution. Im Reich Sarresant begehren die hungernden Bürger gegen die Krone auf. In der Wildnis, wo bislang mächtige Stämme regierten, entsteht eine neue Art von Magie. Die Kommandantin Erris führt ihre Truppen gegen das gegnerische Reich Gand ins Feld und muss in einer erbitterten Schlacht erfahren, dass die Kraft dieser unbekannten Magie alles verändern wird. Gemeinsam mit der jungen Künstlerin Sarine und dem Stammeswächter Arak’Jur findet sie heraus, dass die Welt zum Spielball unvorstellbar mächtiger Feinde geworden ist – der Götter selbst. Und das Schicksal wird sich erfüllen: Drei werden kämpfen. Drei werden sterben. Drei werden zurückkehren.
Ich habe mich sehr auf dieses wuchtige Fantasy-Epos gefreut! Die Story hörte sich sehr vielversprechend an. Doch die Enttäuschung kehrt schon sehr schnell ein. Ich kam von Anfang an nicht in die Welt hinein, die David Mealing entworfen hat. Sie wirkte auf mich wenig anziehend und einfallsreich. Auch fiel es mir schwer, mich an die Charaktere heranzuheften. Mealings verquerter Erzählstil machte es auch nicht einfacher. So kehrte relativ schnell die große Leseödnis ein, so dass das Weiterlesen teilweise zur Folter wurde. „Die Seelen der Welt“ hat auch Licht zu bieten, nicht nur Schatten, aber das Licht ist nicht besonders hell. Die kurzen Storyhöhepunkte zwischendrin können das spannungsarme, aber wuchtige Werk auch nicht mehr retten.
Piper, 811 Seiten; 25,00 Euro
David Mitchell
Slade House
Geh die Slade Alley hinunter, finde das kleine schwarze Eisentor in der Mauer zur Rechten. Keine Klinke, kein Schlüsselloch, aber wenn du es berührst, schwingt es auf. Tritt in den sonnendurchfluteten Garten eines alten Hauses, das dort unpassend wirkt: zu nobel für die schäbige Nachbarschaft, irgendwie zu groß für das Grundstück. Ein Fremder begrüßt dich und führt dich hinein. Zunächst möchtest du gar nicht mehr fort. Dann merkst du, dass du es nicht mehr kannst. Denn alle neun Jahre, am letzten Sonntag im Oktober, wird ein „Gast“ ins Slade House eingeladen. Doch warum wurde er oder sie ausgewählt, von wem und zu welchem Zweck? Die Antwort findet sich dort am hinteren Ende des Flurs, oben am Absatz der Treppe.
Weltbestsellerautor David Mitchell ist für seine außergewöhnlichen Geschichten bekannt. „Der Wolkenatlas“, auch genial fürs Kino verfilmt, ist nur eine davon. Mit „Slade House“ legt er für seine Verhältnisse nun einen sehr kurzen Roman vor, aber dafür einen, der gruselmäßig gut unterhält. „Slade House“ ist kein Horror a la Stephen King, aber auch David Mitchell überzeugt mit seiner düsteren Atmosphäre und den gut gezeichneten Figuren. „Slade House“ ist Old-School-Grusel, und das macht den Roman so richtig gut! Als Leser wird man ebenfalls „Gast“ im „Slade House“. Zum Glück nur literarisch und nicht in der realen Welt. Liebe Leserinnen und Leser, betreten Sie also niemals das „Slade House“, sollten sie einmal davorstehen!
Rowohlt, 237 Seiten; 20,00 Euro
Niall Ferguson
Türme und Plätze
Wir haben uns längst daran gewöhnt, in einer vernetzten Welt zu leben. Was wir oft übersehen: Soziale Netzwerke sind kein Phänomen der Gegenwart. Vielmehr haben Netzwerke aller Arten – die Aktivitäten auf den „Plätzen“ – schon über Jahrhunderte hinweg die „Türme“ der Herrschaftssysteme und Machtapparate beeinflusst oder gar zum Einsturz gebracht. Spanische Forscher und Eroberer stießen ganze Imperien in den Abgrund. Deutsche Buchdrucker untergruben das päpstliche Religionsmonopol. Spione, Banker, Wissenschaftler oder gar Freimaurer forderten die politischen Machthaber heraus.
„Plätze und Türme“ ist ein durch und durch überraschendes und aufschlussreiches Werk über die Netzwerke, die die Menschheit schon seit Jahrhunderten begleiten! Niall Ferguson weiß spannend und detailliert zu erzählen. Die großen Kernthemen des Buches sind: „Netzwerke und Hierarchien“, „Herrscher und Entdecker“, „Briefe und Logen“, „Die Restauratoren der Hierarchie“, „Ritter der Tafelrunde“, „Seuchen und Rattenfänger“, „Besitze den Dschungel“, „Die Bibliothek von Babel“ und „Im Angesicht von Cyberia“.
Propyläen, 624 Seiten; 32,00 Euro
Judith & Christian Vogt
Die 13 Gezeichneten
Sygna, die Stadt des Handwerks. Die Stadt der magischen Zeichen. Seit die Armee von Kaiser Yulian die Stadt erobert hat, ist den Einheimischen die Ausübung ihrer jahrhundertealten Magie jedoch verboten. Eine Widerstandsgruppe will dies nicht hinnehmen. Auch Dawyd, Mitglied der Fechtgilde, wird für die Ziele der Rebellen eingespannt. Denn die kaiserliche Geheimpolizei strebt danach, die mächtigen Wort-Zeichen unter ihre Kontrolle zu bringen. Mit ihnen wären die Besatzer in der Lage, Gefühle und Gedanken zu manipulieren, und das muss um jeden Preis verhindert werden.
Ein Fantasy-Meisterstück von einem ideenreichen Autorenehepaar, von dem man hoffentlich noch viele solcher Werke geboten bekommt! Eine starke ausgearbeitete Welt und Charaktere, an die man sich als Leser dranhängt. „Die 13 Gezeichneten“ sollte man als Fantasy-Liebhaber gelesen haben. Ein großes Plus: Die Reise geht im März 2019 weiter.
Bastei Lübbe, 590 Seiten; 14,00 Euro
Hörbuch der Woche
C. J. Tudor
Der Kreidemann
Alles begann an dem Tag, an dem sie auf den Jahrmarkt gingen. Als der zwölfjährige Eddie den Kreidemann zum ersten Mal traf. Der Kreidemann war es auch, der Eddie auf die Idee mit den Zeichnungen brachte: eine Möglichkeit für ihn und seine Freunde, sich geheime Botschaften zukommen zu lassen. Und erst einmal hat es Spaß gemacht – bis die Figuren sie zur Leiche eines jungen Mädchens führten. Das ist dreißig Jahre her, und Eddie dachte, die Vergangenheit liegt hinter ihm. Dann bekommt er einen Brief, der nur zwei Dinge enthält: ein Stück Kreide und die Zeichnung eines Strichmännchens.
Ein Thriller der ruhigen Art, der Anleihen hat von Donna Tartts Weltbestseller „Die geheime Geschichte“ und Stephen Kings Weltbestseller „Stand by me“. Aber die Ruhe ist keinesfalls langweilig, ganz im Gegenteil. Den Aufbau der Geschichte hat die Engländerin C. J. Tudor in ihrem Erstling geschickt gewählt. Sie springt immer zwischen 1986 und 2016 hin und her, und schraubt so die Spannung unerhört in die Höhe. Ein Miträtsel-Thriller allererster Güte! Auch die Charaktere sind C. J: Tudor ausgesprochen gut gelungen. Sie haben großen Anteil daran, dass man dem „Kreidemann“ bis zum Schluss ohne Pause folgen muss. Devid Striesow liest prächtig! Er überzeugt in der Darstellung der jungen Charaktere, genauso wie bei den dann Erwachsen gewordenen. Hörprobe
Auch als Hardcover erhältlich bei Goldmann, 20,00 Euro.
Der Hörverlag, 6 CDs, 451 Minuten; 20,00 Euro
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