BuchKolumne 23.03.2020 Nr. 605
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Mitchell Zuckoff – 9/11
9/11 ist das entscheidende Ereignis unseres Jahrhunderts. Nach 20 Jahren ist es Teil unserer Geschichte geworden. Erst jetzt kann man angemessen davon erzählen. Mitchell Zuckoff rekonstruiert jede Minute dieses Morgens aus der Perspektive derjenigen, die das Schlimmste erlebt haben. Er folgt den Passagieren und Besatzungsmitgliedern in den vier Flugzeugen; den Menschen, die in den brennenden Zwillingstürmen und im Pentagon gefangen sind; den Rettungskräften, die ungeheuer tapfer, aber oft vergeblich ihr eigenes Leben für das anderer aufs Spiel setzen; den ahnungslosen Passanten, auf die der Tod in Shanksville, Pennsylvania, buchstäblich vom Himmel niederregnet.
Ich weiß noch genau, was ich getan habe, als das erste Flugzeug, American Airlines Flug 11, am 11.09.2011 in den Nordturm einschlug. Sofort machte ich damals den Fernseher an, weil ich es nicht glauben konnte und musste dann live mitansehen, wie das zweite Flugzeug, United Airlines Flug 175, in den Südturm flog. Mehr als einmal flossen an diesem Tag bei mir Tränen. Bilder, die sich für immer bei mir eingebrannt haben. Zahlreichen Lesern wird es genauso gehen, aber Mitchell Zuckoff schreibt, dass es auch schon einen großen Teil gibt, für die 9/11 nur noch irgendein schlimmes historisches Ereignis ist, zudem sie keinerlei Verbindung haben. Auch dem möchte er mit seinem Buch entgegentreten, dem Vergessen. Mitchell Zuckoff lässt die Bilder von damals wieder sofort auferstehen, er schreibt bildhaft und schmerzvoll nah an den Menschen und am Geschehen. 3.000 Opfer, für viele nur eine Zahl, Mitchell Zuckhoff gibt mehreren Menschen, die hinter dieser erschreckenden Zahl stehen, ein Gesicht. Er zeigt, dass das alles Menschen mit einem ausgefüllten Leben waren. Ausgelöscht am 11.09.2001 von barbarischen Terroristen. Bei der Lektüre floss bei mir wieder die eine oder andere Träne, da ich wieder alles so real vor Augen hatte. „9/11“ ist mehr als ein Buch – es ist ein Denkmal! Eine detaillierte Dokumentation der Ereignisse, voller Heldenmut, Trauer, Schrecken und Mitgefühl.
S. Fischer, 702 Seiten; 28,00 Euro
Peter Handke – Das zweite Schwert
Zurückgekehrt nach jahrelangem Unterwegssein in die Gegend südwestlich von Paris, drängt es den Helden drei Tage später bereits zu einem erneuten Aufbruch. Im Gegensatz zu vorangegangenen Welterkundungen verfolgt er diesmal ein unumstößliches Ziel: »›Das also ist das Gesicht eines Rächers!‹, sagte ich zu mir selber, als ich mich an dem bewussten Morgen, bevor ich mich auf den Weg machte, im Spiegel ansah.« Rache warum? Für die Mutter, die in einem Zeitungsartikel denunziert worden war, dem Anschluss ihres Landes an Deutschland zugejubelt zu haben. Rache an wem? Eine Journalistin, der Urheberin dieser wahrheitswidrigen Behauptungen, die in Tagesentfernung in den Hügeln um Paris wohnte.
Peter Handke, der zuletzt den Literaturnobelpreis verliehen bekommen hat, hat ein neues Buch veröffentlicht „Das zweite Gesicht – Eine Maigeschichte“. Was wird mich Großes erwarten, dachte ich mir. Großes gewiss nicht, das stellte sich schnell heraus. Ein kleines Buch, mit weniger als 150 Seiten, großzügig gedruckt, und einer dürftigen Geschichte, die manch literarische Feinheit innehat, aber meist vor schwülstigen literarischen Ausschweifungen nur so strotzt. Nur ein Beispiel: „Der Himmel, allein in mittlerer Höhe durchkreuzt, durchkurvt, durchflattert, durchflittert und durchschossen von beinah allen möglichen Vögeln, und dazu, wieder eine Abwesenheit, kein sonst Sommer für Sommer allein im leeren Himmel zuhöchst im Zenit kurvenziehender Adler, angesichts dessen ich einmal, an einem lautlosen Hochsommermittag, in der Vorstellung, unten auf dem Erdboden ebenso allein zu sein, über die Gegend hier hinaus, sage und schreibe die Vision hatte, eine eher apokalyptische, und so oder so eine des Grauens.“ Ein maßlos selbstverliebtes Buch! Das Lesen kommt einer qualvoll gedruckten Auspeitschung gleich.
Suhrkamp, 158 Seiten; 20,00 Euro
Kate Weinberg – Die Lügner
Jess Walker hält sich für wertlos und unscheinbar. Als sie jedoch ihr Studium beginnt, lässt sie Familie und Vergangenheit zurück und beschließt, sich neu zu erfinden. Schnell findet Jess anziehende Vorbilder für ihr Vorhaben: Lorna Clay, die von Jess überaus bewunderte, exzentrische Literaturwissenschaftlerin. Und Alec, den charismatischen Journalisten, in den sie sich Hals über Kopf verliebt. Beide zeigen ihr, wie außergewöhnlich sie selbst und das Leben sein können. Als Alec Jess’ Gefühle erwidert, glaubt sie am Ziel ihrer Träume angekommen zu sein. Doch dann reist Alec nach Südafrika – und wird wenige Tage später tot aufgefunden. Und plötzlich muss Jess alles infrage stellen, was sie je für die Wahrheit gehalten hat.
Ein spannender Campus-Roman, bei dem nichts so ist, wie es scheint! Bei „Die Lügner“ kommen auch starke Krimielemente zu tragen, nicht zuletzt dadurch, dass Lorna Clay einen speziellen Unterrichtsstoff hat: Agatha Christie. Und an der hat sich wohl auch Autorin Kate Weinberg ein Beispiel genommen. Die Geschichte beginnt langsam und bekommt nach und nach immer mehr Drive. Man geht mit Jess ihren neuen Weg in einer neuen Umgebung. Kann sie und ihr Handeln verstehen. Doch plötzlich kommt alles anders. „Die Lügner“ täuscht und verwirrt den Leser, aber nur, um ihn damit bestens zu unterhalten! Kate Weinberg hat mir ihrem Debütroman viel richtig gemacht.
Bold, 400 Seiten; 18,00 Euro
Michael Tsokos – Abgefackelt
Rechtsmediziner Paul Herzfeld steckt sein letzter Fall noch in den Knochen, weshalb er vorübergehend von Kiel nach Itzehoe auf eine vermeintlich ruhigere Stelle in der Pathologie versetzt wird. Doch die dortige Ruine des Klinikumarchivs zeugt von einem Flammenmeer, in dem nicht nur tausende Akten und Gewebeproben dem Feuer zum Opfer fielen, sondern auch Herzfelds Vorgänger in der Pathologie den Tod fand. Ein Todesfall mit zu vielen Ungereimtheiten, wie Herzfeld findet. Und je weiter er nachforscht, desto klarer wird, dass er einem Skandal ungeheuren Ausmaßes auf der Spur ist. Die Gesundheit der Bevölkerung Norddeutschlands ist ernsthaft bedroht. Seine Ermittlungen auf eigene Faust bleiben nicht lange unentdeckt, denn bald verfolgt ihn eine eiskalte Killerin auf Schritt und Tritt.
Michael Tsokos verzückt die Thriller-Leser! Der Rechtsmediziner, mit seinem Co-Autor Alex Pohl, legt nach „Abgeschlagen“ nun den zweiten Fall für Paul Herzfeld vor, seines Zeichens ebenso Rechtsmediziner. Michael Tsokos macht mit „Abgefackelt“ genau da weiter, wo er mit „Abgeschlagen“ aufgehört hat – er gönnt dem Leser keine Atempause. „Abgefackelt“ wird auch Sie in Brand setzen. Ein höllisch spannender und gemeiner Thriller!
Knaur, 328 Seiten; 14,99 Euro
Thomas Piketty – Kapital und Ideologie
Nichts steht geschrieben: Der Kapitalismus ist kein Naturgesetz. Märkte, Profite und Kapital sind von Menschen gemacht. Wie sie funktionieren, hängt von unseren Entscheidungen ab. Das ist der zentrale Gedanke dieses Buches. Es wird darin erforscht: die Entwicklungen des letzten Jahrtausends, die zu Sklaverei, Leibeigenschaft, Kolonialismus, Kommunismus, Sozialdemokratie und Hyperkapitalismus geführt und das Leben von Milliarden Menschen geformt haben. Die welthistorische Bestandsaufnahme führt uns weit über Europa und den Westen hinaus bis nach Asien und Afrika und betrachtet die globalen Ungleichheitsregime mit all ihren ganz unterschiedlichen Ursachen und Folgen.
Thomas Piketty, Professor in Paris und Autor des Weltbestsellers „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, hat mit diesem Buch ein Mammutwerk zum Thema verfasst. Man kann die Welt dadurch besser verstehen und vielleicht in Zukunft auch ein Stück verändern. Doch muss man einige seiner Thesen auch sehr kritisch hinterfragen. Ein interessantes, aufklärendes und beeindruckendes Buch! Die Hauptthemen sind: „Ungleichheiten in der Geschichte“ darunter u. a. „Die Erfindung der Eigentümergesellschaft“, „Die Sklavenhalter- und Kolonialgesellschaften darunter u. a. „Dreigliedrige Gesellschaften und Kolonialismus“, „Die große Transformation im 20. Jahrhundert“ darunter u. a. „Der Hyperkapitalismus: zwischen Moderne und Rückwärtsgewandtheit“ und „Neues Nachdenken über die Dimensionen des politischen Konflikts“ darunter u. a. „Grenze und Eigentum: die Konstruktion der Gleichheit“.
C. H. Beck, 1.312 Seiten; 39,95 Euro