Kolumne vom 11.01.2016 – Nr. 386
Tim Winton
Schwindel
Tom Keely hat mehr als nur eine Midlife-Crisis: Einst bekannter und überzeugter Umweltaktivist, hat er nun, mit Mitte vierzig, durch einen Skandal seinen Job verloren, nebenbei seine Ehe zerstört und will mit der Welt nichts mehr zu tun haben. Alkohol und Tabletten helfen ihm zu vergessen. Er lebt in einem Apartmenthochhaus in Fremantle, einer schäbigen Hafenstadt in der Nähe von Perth, Westaustralien. Als plötzlich Gemma Buck, eine alte Bekannte aus seiner Kindheit, in das Hochhaus einzieht, wird Tom aus seiner Abwärtsspirale gerissen; vor allem Gemmas sechsjähriger Enkel Kai, den Gemma aufzieht, weil seine Mutter im Gefängnis sitzt, weckt Gefühle und Kräfte in Tom, die er längst verloren glaubte. Um jeden Preis versucht er, Gemma und Kai vor weiteren Katastrophen in ihrem prekären Leben zu beschützen.
Ein literarisches Leseerlebnis! Der Stil des Australiers Tim Winton ist schwindelerregend schön. In „Schwindel“ geht um das Finden von sich selbst; das Leben anzunehmen, egal in welcher Situation man sich befindet; die Liebe, die Gesellschaft, die Globalisierung, aber alles aus dem kleinen Blickwinkel von Tom Keely betrachtet. So fühlt man noch mehr mit, was die Figur alles durchläuft. Tim Winton beschreibt das in lauten, und leisen und vielen Zwischentönen. Jeden Satz saugt man in sich auf. Nur ein kleiner Auszug von Tim Wintons‘ sprudelnder Erzählkunst: „… die Kampfmütter mit ihren Kinder-SUVs und dem Jogging-Lycra, die ganze Cafés besetzen, und die sich nicht damit zufrieden gaben attraktiv und gesund zu sein, sondern sie mussten grausam hinreißend sein.“ Tim Winton hat schon mit „Der singende Baum“ und „Weite Welt“ begeistert. Mit „Schwindel“ tut er das nun wieder.
Luchterhand, 478 Seiten; 19,99 Euro
Wolfgang Burger
Drei Tage im Mai
Kripochef Alexander Gerlach wird zu einer Geiselnahme gerufen. Ein bewaffneter Mann hat den Chef einer Immobilienfirma in seine Gewalt gebracht. Streit war zu hören, ein Schuss, seitdem nichts mehr. Der Tag verstreicht, ohne dass der Geiselnehmer Forderungen stellt. Alle Versuche, mit ihm in Kontakt zu treten, laufen ins Leere. Welches Motiv steckt hinter der Tat? Feinde des erfolgreichen Geschäftsmannes finden sich zuhauf, denn vor Kollateralschäden zugunsten seiner Karriere war er nie zurückgeschreckt. Schließlich gibt Gerlach den Befehl zur Stürmung. Doch von den beiden Männern fehlt plötzlich jede Spur …
Wolfgang Burger ist ein Krimi-Autor, der sein Handwerk versteht! Nur in seinem aktuellen Krimi „Drei Tage im Mai“, der zwölfte Fall für Alexander Gerlach, vergisst er sein Handwerk etwas und schnitzt eine Story mit zu vielen Leerläufen zusammen. Die Grundstory klingt nicht nach großer Spannung, welche sie dann auch nicht hat. Sicher, man hätte daraus viel machen können, doch was Wolfgang Burger daraus macht ist mehr von Langeweile geprägt als von spritzigen Krimiideen. Auch das Privatleben des Ermittlers kommt zu kurz, doch das liebt man doch als langjähriger Leser der Serie. „Drei Tage im Mai“ gehört zu den schlechtesten Werken von Wolfgang Berger.
Piper, 394 Seiten; 14,99 Euro
Tanja Kinkel
Schlaf der Vernunft
Nach 20 Jahren Gefängnis wird die RAF-Terroristin Martina Müller, 48, begnadigt. Ihre Tochter Angelika, die ihre Entschlossenheit nie verstanden hat, will ihrer Mutter beistehen, obwohl diese die Verbindung zu ihrer Tochter abgebrochen hatte. Martina muss erkennen, dass nichts erreicht wurde, jeder Mord umsonst gewesen war. Um herauszufinden, ob sich ihre Mutter geändert hat, muss Angelika Martinas Spuren folgen. Von der Sympathisantin, über die Illegalität und dem Gängelband der Stasi, bis hin zum großen Attentat. Aber nicht nur sie. Durch die Begnadigungen gibt es zwar Ex-Terroristen, aber Ex-Opfer gibt es nicht, denn deren Leid verjährt nie.
Eines von Tanja Kinkels besten Büchern! Da die Bestsellerautorin nun schon seit zwei Jahrzehnten regelmäßig starke Werke vorlegt, hat das viel zu bedeuten. Das Aufarbeiten des RAF-Terrors aus unterschiedlichen Perspektiven. Wahrheit und Fiktion laufen hier in perfektem Einklang. Tanja Kinkel erzählt in zwei Strängen. Einer spielt im Jahr 1998 (er stellte die Gegenwart des Romans dar), der andere beginnt 1967 und setzt sich bis 1977 fort. Wer bisher nur oberflächlich über den RAF-Terror Bescheid weiß, kann hier, durch den Detailreichtum und nicht zuletzt wegen der geschickte Erzählweise, schnell viel dazulernen. Ein Roman, der elektrisiert und für anhaltende Hochspannung sorgt!
Droemer, 448 Seiten; 19,99 Euro
Peter James
Die Zeit läuft
New York, 1922: Ein Zettel mit vier Namen, 11 Zahlen und eine wertvolle Uhr sind das Einzige, was dem fünfjährigen Gavin Daly und seiner kleinen Schwester von ihrem Vater bleiben. Nur eine Nacht zuvor wurde seine Mutter vor ihren Augen ermordet, sein Vater entführt. Der kleine Junge schwört Rache, auch wenn es ein Leben dauern sollte. Brighton, 2012: Eine alte Dame öffnet die Tür, wird brutal niedergeschlagen und ausgeraubt. Doch ihr Bruder will nur einen Gegenstand zurück: Die Uhr. Für sie würde er auch einen Mord begehen. Kann Roy Grace einen Mann stoppen, der sein ganzes Leben lang auf den großen Tag der Abrechnung gewartet hat?
Ein neuer Fall für Roy Grace, in England wieder ein Nr. 1 Bestseller. Das liegt vor allem daran, dass Peter James mit seinem Ermittler Roy Grace schon so eine treue Fangemeinde hat. Der aktuelle Thriller „Die Zeit läuft“ reicht nicht ganz an viele andere aus der Reihe heran. Zu behäbig geht es voran. Doch Peter James schafft es trotzdem, dass man dran bleibt. Ein spannender Thriller, den sich kein Roy-Grace-Fan entgehen lassen sollte! Denn man möchte ja wissen, wie es mit dem Ermittler weitergeht, beruflich wie privat..
Scherz, 393 Seiten; 14,99 Euro
Stefan Bauer
Der mit dem Scheich tanzt
Der Autor weiß nicht viel über den Wüstenstaat, als er seinen Dienst als Rettungssanitäter in Riad aufnimmt. Er trifft Beamte, die ihm arglos den Hitlergruß zeigen, junge Saudis, die Nacht für Nacht ihr Leben in illegalen Autorennen aufs Spiel setzen, und einen Gefängnisdirektor, der mit ihm lieber über die touristischen Attraktionen Deutschlands plaudern will, anstatt ihn zum Patienten vorzulassen. Stefan Bauers Erfahrungen sind fesselnd, zwiespältig, manchmal verstörend. Und sie ermöglichen einen einzigartigen Blick in eine Gesellschaft, die uns fremd ist und doch mehr mit uns zu tun hat, als wir glauben.
Wie tickt Saudi-Arabien? Was macht Land und Leute aus? „Der mit dem Scheich tanzt“ gibt Einblicke in ein Land, von dem wir immer nur mal was aus den Nachrichten hören. Stefan Bauers Erlebnisse gehen tiefer, lassen in die Seele der Menschen und der Kultur des Landes blicken. Das ist teils schockierend und hart, aber es gibt auch die freundlichen Momente. Wie viele muslimische Länder ist auch Saudi-Arabien ein Land der krassen Gegensätze. Nach der Lektüre wird einem Saudi-Arabien nicht mehr wie ein Buch mit sieben Siegeln erscheinen..
Lübbe, 302 Seiten; 16,99 Euro
Hörbuch der Woche
Luke Delaney
Für immer mein
Als Louise am helllichten Tag verschwindet, weiß DI Sean Corrigan vom Morddezernat South London sofort, dass es sich um ein Verbrechen handelt. Obwohl Corrigan nicht eine Sekunde daran zweifelt, dass Louise gegen ihren Willen aus ihrer Wohnung verschleppt wurde, glaubt er, dass sie noch am Leben ist. Die Suche nach ihr läuft auf Hochtouren. Dann wird die Leiche einer Frau gefunden, die Louise zum Verwechseln ähnlich sieht. Ein Opfer von Louises Entführer? Die Zeit läuft Corrigan und seinem Team davon …
Der Brite Luke Delaney hat schon mit seinem Debüt-Thriller „Mein bist du“ für viel Spannung gesorgt. Nun der zweite Fall für DI Sean Corrigan „Für immer mein“. Neu ist die Story nicht: Mann entführt Frauen und hält sie in Käfigen um sie zu missbrauchen. Doch die Herangehensweise an die Story hat neue Elemente. Die Spannung bleibt immer auf dem gleich hohen Level. Und die Charaktere sind ganz stark, daher lässt das Buch einen nicht mehr los. Ein Thriller zum Nägelkauen! Sprecher-Gott Martin Kessler, die deutsche Stimme von den Hollywood-Stars Nicolas Cage und Vin Diesel, liest wieder beängstigend gut. Martin Keßler hat eine Stimme mit Wow-Effekt!
Auch als Taschenbuch erhältlich bei Bastei Lübbe, 9,99 Euro.
Lübbe Audio, 6 CDs, 365 Minuten; 10,99 Euro
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