April 19, 2024

Kolumne 31.07.2017

Kolumne vom 31.07.2017 – Nr. 467


Upton Sinclair

daumen rauf

Boston

Boston -  Upton Sinclair

Glamour, Jazz und endlose Partys: Das waren die Roaring Twenties. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Denn während die Happy Few feierten, wurden die Massen mittels brutaler Klassenjustiz niedergehalten. Am Beispiel der einflussreichen Ostküsten-Sippe Thornwell zeigt die Geschichte, wie das System staatlich sanktionierter Korruption funktionierte. Als Kulminationspunkt dient der Schauprozess gegen die zwei bekanntesten Justizopfer der amerikanischen Geschichte, Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, die 1927 wegen Mordes hingerichtet wurden.

Manesse hat allen Literatur-Fans schon ein großes Fest bereitet, als sie Upton Sinclairs Jahrhundertwerk „Öl“ in einer Neuübersetzung 2015 veröffentlicht haben. Das Fest bekommt nun 2017 eine Fortsetzung mit dem zweiten Klassiker des Autors „Boston.“ Ein Roman, der vor 100 Jahren spielt, und man muss erkennen, so viel hat sich in diesen 100 Jahren für die Menschen in den USA nicht verändert. „Boston“ zeigt, dass der Kapitalismus auch schon zu Zeiten des 1. Weltkriegs und danach in Amerika herrschte, die-da-oben verdienten ihr Geld mit Aktien und Anleihen, die-da-unten ihr weniges Geld mit harter Arbeit in den Fabriken. Die Geschichte zeigt zu Anfang wie eine privilegierte 60-jährige nach dem Tod ihres ungeliebten Mannes ihr wohlhabendes Leben freiwillig gegen ein Arbeiterleben eintauscht um endlich die andere Seite kennenzulernen und selbst Geld verdienen zu müssen. Plötzlich lernt sie ein Leben und Mensche kennen, auf das sie und ihre Sippe bisher nur hinabgeschaut haben. Das ist der eine Teil von „Boston“. Der andere, der Hauptteil, dreht sich um die Justizopfer Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, und was ihre Geschichte mit den Menschen und dem Land machte. „Boston“ ist ein ganz starkes Stück Literatur!

Manesse, 1.030 Seiten; 42,00 Euro


Katarzyna Bonda

daumen runter

Das Mädchen aus dem Norden

Das Mädchen aus dem NordenNach einem Aufenthalt im Ausland kehrt die Profilerin Sasza Załuska zurück in ihre Heimatstadt Danzig. Sie hat beruflich und privat viel durchgemacht. Eine verdeckte Ermittlung endete in einer Katastrophe. Verbrennungen und das Trauma einer Geiselnahme blieben zurück. Nun soll Schluss sein mit Verbrechen und unstetem Leben. Sasza erhofft sich ein ruhiges Dasein an der Seite ihrer kleinen Tochter. Doch dann erhält sie einen lukrativen Auftrag: Der Inhaber eines Musikclubs bittet sie, die Hintergründe von wiederholten Erpressungen und Morddrohungen aufzudecken. Für die Ermittlerin eine vermeintlich einfache Aufgabe. Kurz darauf gibt es einen Anschlag auf den Club, bei dem ein Mensch stirbt. Sasza Załuska beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen. Eine Entscheidung, die sie bald bereut.

Katarzyna Bonda zählt in unserem Nachbarland Polen zu den meistverkauften Autorinnen. Nun erscheint sie auch auf Deutsch, mit ihrem Thriller „Das Mädchen aus dem Norden“, dem erste Fall für Profilerin Sasza Załuska. Ein Thriller mit Höhen und Tiefen. Spannende Passagen wechseln sich mit sehr langweiligen ab. Daher ist man nie durchgängig gefesselt, was die Thrillerfreude trübt. Auch ist die Länge von über 650 Seiten zu viel für diese Story, 200 Seiten weniger und man hätte an der Grundstory nichts vermisst. Diese Kürzung hätte dem Buch gut getan, denn dann wäre man vielleicht durchgängig gefesselt gewesen. Trotz allem würde ich einem weiteren Thriller von Katarzyna Bonda eine Chance geben.

Heyne, 656 Seiten; 16,99 Euro


Kai Diekmann

daumen rauf

Helmut Kohl 1930 – 2017: Sein Leben in BILD

Helmut Kohl 1930 2017 Sein Leben in BILD Kaum ein Kanzler hat die Nachkriegsgeschichte der Deutschen so tiefgreifend geprägt wie Helmut Kohl. Und kaum eine Zeitung hat Kohl schon so früh und intensiv aus der Nähe beobachtet wie BILD. Dieses Buch – reich bebildert und opulent ausgestattet – dokumentiert, wie aus dem „Jungen Wilden“ aus der Pfalz ein europäischer Staatsmann wurde – mit allen Tragödien und Brüchen seiner Biographie, die dazu gehören. Nicht retrospektiv, nicht aus der Ferne. Sondern mit tagesaktuellen Artikeln der BILD-Reporter aus sechs Jahrzehnten. Helmut Kohl, betrachtet durch die Augen seiner Zeit.

Ein spektakuläres Buch über Helmut Kohl! Biographien dieser großen Persönlichkeit gibt es einige, hervorzuheben ist die sehr gut von Hans-Peter Schwarz „Helmut Kohl – Eine politische Biographie“. Aber so wie Herausgeber Kai Diekmann Helmut Kohl, sein Leben, seine Politik, sein Wirken in diesem Buch aufzeigt, das ist außergewöhnlich. Helmut Kohl und sein Leben in der BILD-Zeitung. Jede neue Schlagzeile, jedes neue Foto wirft ein neues Licht auf seine Arbeit und seine Person. Dieses Buch würdigt einen der ganz großen deutschen und europäischen Politiker und ist ein großartiges Stück Zeitgeschichte!

Piper, 320 Seiten; 20,00 Euro


Annie Proulx

daumen rauf

Aus hartem Holz

Aus hartem Holz

Neufrankreich, dem heutigen östlichen Kanada, 1693. Die zwei Franzosen René Sel und Charles Duquet sind Holzarbeiter und suchen ihr Glück auf dem neuen Kontinent. Ihre Lebenswege verlaufen sehr unterschiedlich. Beide arbeiteten hart, der eine heiratet eine Indianerin, der andere wird ein erfolgreicher Unternehmer, der geschäftliche Beziehungen bis nach Europa, China und Neuseeland unterhält. Die verschlungenen Wege der nachfolgenden Generationen dieser beiden Männer führen durch die großen Ereignisse, die auf dem Kontinent stattfinden. Aber es geht auch immer um die Bäume und den Schutz der Natur.

Die Pulitzerpreisträgerin meldet sich nach über zehn Jahren mit einem wuchtigen und vor literarischer Kraft strotzendem Werk wieder eindrucksvoll zurück! Annie Proulx, Autorin von Werken wie „Schiffsmeldungen“ oder „Brokeback Mountain“, erzählt in „Aus hartem Holz“ von 1693 bis in die Gegenwart von einer wunderbaren Landschaft, hart kämpfenden Menschen, Liebe und Krieg, Macht, Gier und viel Hoffnung auf ein gutes Leben.

Luchterhand, 894 Seiten; 26,00 Euro


Mark Riebling

daumen rauf

Die Spione des Papstes

Die Spione des Papstes

Das Schweigen des Vatikans zum millionenfachen Morden der Nazis ist und bleibt eine der großen Kontroversen unserer Zeit. Bis heute wird diskutiert, warum Papst Pius XII. öffentlich nicht deutlicher intervenierte. Der Autor arbeitet die Rolle des Vatikans im Widerstand gegen Hitler auf und fügt der historischen Wahrheitssuche neue, wichtige Facetten hinzu. Denn während Papst Pius noch Geburtstagskarten an Hitler schrieb, unterstützte er im Geheimen die Attentatspläne des deutschen militärischen Widerstands.

Der Amerikaner Mark Riebling ist unter anderem Dozent an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom und hat auch den Themenschwerpunkt Geheimdienste bei seiner weiteren Arbeit. Zwei gute Voraussetzungen für dieses Werk. Mit großer Vorfreude ging ich an dieses Buch heran. Der Vatikan im Kampf gegen Hitler, endlich mal ein Buch aus dieser Kategorie, denn sonst liest man ja fast nur, wie die Kirche vor Hitler in die Knie gegangen ist. „Die Spione des Papstes“ liest sich wie ein spannender Spionage-Thriller. Mark Riebling hat ein absolut beeindruckendes Werk verfasst!

Piper, 493 Seiten; 26,00 Euro


Hörbuch der Woche

daumen rauf

Gail Honeyman

Ich, Eleanor Oliphant

Ich Eleanor Oliphant Audio

Eleanor Oliphant ist anders als andere Menschen. Eine Pizza bestellen, mit Freunden einen schönen Tag verbringen, einfach so in den Pub gehen? Für Eleanor undenkbar! Und das macht ihr Leben auf Dauer unerträglich einsam. Erst als sie sich verliebt, wagt sie sich zaghaft aus ihrem Schneckenhaus – und lernt dabei nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst noch einmal neu kennen. Doch sie muss erkennen, dass einseitige Liebe nicht funktioniert und das eine gute Freundschaft viel mehr bedeuten kann.

Mit Eleanor Oliphant hat Gail Honeyman eine ganz starke Figur erschaffen! Was auch maßgeblich zu der starken Figur beiträgt ist die Interpretation der preisgekrönten Sprecherin Laura Maire. Ihrer feengleichen Stimme mischt sie hier die Unsicherheit der Eleanor Oliphant bei, aber auch die Klarheit, mit der Eleanor ihr Leben führt. Das Hörbuch wird durch Laura Maire zu einem Hörgenuss! „Ich, Eleanor Oliphant“ ist eine Geschichte über eine junge Frau mit einer sehr düsteren Vergangenheit. Das Leben hat sie zu der werden lassen, die sie heute ist, mit einer Narbe im Gesicht gezeichnet und noch unendlich viel mehr Narben auf ihrer Seele. Aber das Buch ist keinesfalls düster, es schenkt Hoffnung, es zeigt, wie positiv sich ein Leben verändern kann. Dazu braucht es nur einen Menschen, eine Liebe, oder in Eleanors Fall, einen wahnsinnig guten Freund.

Ich Eleanor Oliphant

 

Auch als Hardcover erhältlich bei Lübbe, 20,00 Euro.

Lübbe Audio, 6 CDs, 431 Minuten; 20,00 Euro


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