April 20, 2024

Kolumne 09.05.2016

Kolumne vom 09.05.2016 – Nr. 403


Nikolaus Wachsmanndaumen rauf

KL

KL- Nikolaus Wachsmann

Eine Geschichte der Konzentrationslager von den improvisierten Anfängen 1933 bis zu ihrer Auflösung 1945. Diese erste umfassende Darstellung vereint sowohl die Perspektive der Täter als auch jene der Opfer, sie zeigt die monströse Dynamik der Vernichtungspolitik und verleiht zugleich den Gefangenen und Gequälten eine Stimme. Der Autor hat eine enorme Menge an Quellen und Forschungsliteratur ausgewertet, Tagebücher und Briefe der Lagerinsassen, Prozessunterlagen, SS- und Polizeiakten, ein Teil davon erstmals hier verwendet. Auf diese Weise konnte er die Praktiken der Täter, die Einstellungen der Gesellschaft und die Welt der Opfer in einem großen epischen Rahmen zusammenführen, konnte das Leben und Sterben im Lager, die individuellen Schicksale schildern, aber auch die politischen, ökonomischen und militärischen Umstände, die Hintergründe der NS-Vernichtungspolitik.

Ein erschütterndes Buch, das den Leser tief in die Materie entführt. Es ist eine Reise des Grauens, die man mit Nikolaus Wachsmann hier unternimmt. Der Autor zeigt die nationalsozialistischen Konzentrationslager in ihrer Gesamtheit. Das umfasst eine Schilderung der Vorkriegsursprünge; die Entstehung und den Ausbau des KL-Systems zwischen 1933 und 1939; den Abstieg in den Massentod und die massenhaften Hinrichtungen in der ersten Kriegsphase; wie Auschwitz in ein Todeslager ungewandelt wurde; das Alltagsleben der Häftlinge und des SS-Personals im besetzten Osteuropa; die Weiterentwicklung des KL-Systems in den Jahren 1942 und 1943; die rasche Ausbreitung der Außenlager in den Jahren 1943 und 1944; die Ausbeutung Hunderttausender Häftlinge und vor welchen ausweglosen Entscheidungen die Lagerinsassen standen und die Zerstörung der Lager und einem letzten Gewaltexzess in den Jahren 1944 und 1945. „KL“ ist ein Buch, das zeigt, wie grausam die Bestie Mensch wüten kann.

Siedler, 984 Seiten; 39,99 Euro


Orna Donathdaumen runter

#regretting motherhood – Wenn Mütter bereuen

regretting motherhood  Wenn Mütter bereuenMutter zu sein, ist Vollendung und macht glücklich. Punkt. Wer etwas anders behauptet, ist selbstsüchtig, Rabenmutter oder nicht ganz normal. Das Buch thematisiert, was bisher kaum ausgesprochen wird: Dass viele Frauen in der Mutterschaft nicht die “vorgeschriebene” Erfüllung finden. Dass sie ihre Kinder lieben und trotzdem nicht Mutter sein wollen. Mit ihrer Forschung zu Müttern, die bereuen, löste die israelische Soziologin Orna Donath weltweit eine Debatte aus, die noch völlig am Anfang steht.

„#regretting motherhood – Wenn Mütter bereuen“ ist ein sehr gutes Buch! Endlich bekommen auch die Frauen eine öffentliche Stimme, die zwar Kinder bekommen haben, aber dies meist nur aus gesellschaftlichem oder partnerschaftlichem Druck. Selbst wollten diese Frauen aber eigentlich nicht Mutter werden. Ich kenne selbst Frauen, die Mutter geworden sind, es bereuen, ihr Kind aber trotzdem lieben, oder es einfach hassen Mutter zu sein, aber dem Kind nun halt irgendwie gerecht werden wollen, oder einfach auch die Entscheidung treffen, keine Mutter werden zu wollen. Jede Frau muss selbst entscheiden können was sie will, Mutter oder keine Mutter, ohne von außen dafür verurteilt zu werden! Das arbeitet dieses Buch gut heraus, durch die Stimmen der Frauen, die in diesem Buch zu Wort kommen. Was wahnsinnig stört, ist die überbordende psychologische Betrachtung und Einordnung der Autorin, was den Hauptteil des Buches darstellt. Das hätte es nicht gebraucht, und die Autorin wiederholt sich auch immer und immer wieder. Das Buch ist also sehr lesenswert, wenn man nach einer Zeit einfach das, was die Autorin von sich gibt, überspringt, und nur die Zitate der interviewten Frauen liest.

Knaus, 272 Seiten; 16,99 Euro


Titiou Lecoqdaumen rauf

Die Theorie vom Marmeladenbrot

Die Theorie vom MarmeladenbrotParis im Jahr 2006: In einem Chatroom begegnen sich drei Menschen, deren Wege sich im realen Leben niemals gekreuzt hätten. Christophe, ein Web-Journalist der ersten Stunde, versucht der Pleite zu entgehen und Investoren zu finden. Die Bloggerin Marianne taucht in einem Pornovideo auf, und versucht mit Hilfe von Christophe und Paul, der gegen seine Eltern rebelliert, das Video „unschädlich“ zu machen. Aus der flüchtigen Begegnung wird ein großes Abenteuer. Paris im Jahr 2015: Marianne, Christophe und Paul sind erwachsen geworden, Ihre großen Träume drohen zu scheitern, im Leben wie in der Liebe, doch reift in ihnen eine wichtige Erkenntnis: echte, keine virtuellen, Freunde sind etwas Besonderes.

Die bezaubernde Französin Titiou Lecoq hat mit „Die Theorie vom Marmeladenbrot“ einen ebenso bezaubernden, witzigen, modernen, einfach einen wundervollen Roman geschrieben. Eine Geschichte, in die man sich schnell verliebt, genauso wie in die liebreizenden und so normalen Charaktere. „Die Theorie vom Marmeladenbrot“ ist eine Liebesgeschichte, eine zutiefst menschliche, und eine über das Internet. Denn wie Titiou Lecoq so über das Internet schreibt, und was es mit uns anstellt, spürt man die Liebe zu diesem mittlerweile unverzichtbaren Medium. Wie das Internet unser Leben und unsere Kommunikation in den letzten zehn Jahren verändert hat, das erfährt man hier dezent eingearbeitet in dieser schönen Geschichte.

Ullstein, 342 Seiten; 20,00 Euro


Louisa Youngdaumen rauf

Alles worauf wir hofften

Alles worauf wir hofftenLondon, 1919. Der große Krieg ist vorbei, endlich kann Nadine ihren von den Kämpfen gezeichneten Riley heiraten. Doch Normalität scheint unmöglich. Erst ihre Hochzeitsreise durch das aufgewühlte Italien hilft Nadine und Riley, ihre Ehe auf Liebe zu gründen statt auf Abhängigkeit und Mitleid. Auf dem Landsitz Locke Hill wohnen Nadines Freunde Julia und Peter zwar in einem Haus zusammen, doch sie leben meilenweit voneinander entfernt. Die Traumata des Krieges belasten die Ehe schwer. Und während Nadine und Riley der gesellschaftliche Aufstieg in der sich neu findenden Nachkriegswelt gelingt, können Peter und Julia keinen Frieden mit der Vergangenheit schließen.

Die Liebe, der Krieg, die Zerstörung von Gefühlen, Körpern und Leben darum geht in „Alles worauf wir hofften“. Diese Tragik, diese Trauer, diese Verzweiflung, dieses wirre Wort mit dem Namen Liebe, der Krieg, der sie überleben lässt, aber sie und alle herum trotzdem tötet – innerlich. „Alles worauf wir hofften“ ist beängstigend gut erzählt!

List, 348 Seiten; 18,00 Euro


François Lelorddaumen rauf

Hector und die Suche nach dem Paradies

Hector und die Suche nach dem Paradies

Hector ist 25 und zum ersten Mal so richtig verliebt. In Clotilde, eine Kollegin aus dem Krankenhaus, schön wie ein Botticelli-Engel, aber leider auch genauso unnahbar. Immerhin kann er mit ihr über etwas reden, das ihm nach dem Tod eines kleinen Patienten auf der Seele liegt: Wie kann Gott, wenn es ihn gibt, nur so etwas Grausames zulassen? Als dann mehrere Patienten der Klinik nach dem Genuss eines Tees apokalyptische Wahnvorstellungen haben, findet sich Hector neben Clotilde in einem Flugzeug in Richtung Himalaja wieder. Der Auftrag: zu verhindern, dass die falschen Leute hinter das Geheimnis des Tees kommen.

Der französische Bestseller-Autor François Lelord hat sich mit seinen inspirierenden „Hector“-Romanen weltweit in die Herzen der Leser geschrieben! „Hector und die Suche nach dem Paradies“ ist Hectors erste Reise, aber der siebte Band der Reihe. Eine berührende Geschichte über die Liebe, den Glauben, die Hoffnung, und das, was uns ausmacht und das was von uns bleibt.

Piper, 253 Seiten; 18,00 Euro


Hörbuch der Wochedaumen rauf

Pierre Jarawan

Am Ende bleiben die Zedern

Am Ende bleiben die Zedern

Samirs Eltern sind kurz vor dessen Geburt aus dem Libanon nach Deutschland geflohen. Samir wächst in Deutschland auf lernt wie gemein das Leben auch hier sein kann, aber trotzdem kommt er in der Gesellschaft an. Als sein geliebter Vater spurlos verschwindet, ist Samir acht. Jetzt, zwanzig Jahre später, macht er sich auf in das Land der Zedern, um das Rätsel dieses Verschwindens zu lösen. Im Libanon und dessen Hauptstadt Beirut lernt er nicht nur freundliche Menschen kennen, sondern auch das Land seiner Eltern. Und das Geheimnis seines Vaters …

Vor zwanzig, dreißig Jahren war der Libanon was heute Syrien ist. Der Libanon musste nach dem Bürgerkrieg auch wieder aufgebaut werden. Das ist einer der Themen die Pierre Jarawan in seinem beachtenswerten Romandebüt „Am Ende bleiben die Zedern“ behandelt. Er schreibt darin aber auch über die Schönheit, die Rohheit und Vielfältigkeit von Beirut und dem Libanon. Eine breigefächerte und hingebungsvolle Geschichte. Leider damals wie heute aktuell, wie im arabischen Raum ein Land durch einen sinnlosen Krieg zerstört wird. Die Menschen, die im Krieg ihr Leben oder ihre Seele verlieren, zu Flüchtlingen werden und auch wieder zurückkehren. Im Vordergrund steht aber die Suche nach dem Vater, nach seinen eigenen Wurzeln und nach einer lang verschwiegenen Geschichte. Timo Weisschnur liest feinfühlig und dramatisch. Und es ist verrückt, in manch Nuancen klingt er wie der geniale David Nathan. So schön der Roman, so schön ist die Lesung.

Auch als Hardcover erhältlich bei Berlin Verlag, 22,00 Euro.

Osterwold Audio, 8 CDs, 586 Minuten; 21,99 Euro


Denglers-buchkritik.de